Erwin Eckert (1893-1972)

 
   
 

I.
Sind wir Marxisten? Stellungnahme Juni 1930 Download als PDF      
II.
Opposition, nicht Koalition. Stellungnahme am 15. Oktober 1930 Download als PDF
III.
Christuskreuz – nicht Hakenkreuz!. Rede am 17. Januar 1931 Download als PDF      
IV. Die Kirche und der Kommunismus. Broschüre Ende 1931 Download als PDF      
V. „Vorwärts zur neuen Demokratie“. Rede am 24. Mai 1946 auf dem Mannheimer Marktplatz Download als PDF      
VI. „Brüder, in eins nun die Hände...“ Rede am 25. Mai 1946 in Heidelberg Download als PDF      
VII. Verfassung für das Land Südbaden? Rede in der Beratenden Versammlung des Landes Baden am 11. April 1947 Download als PDF      
VIII. Rechtspflege. Rede am 14. April 1947 in der Beratenden Versammlung Badens Download als PDF
IX. Die neue Demokratie. Rede am 15. April 1947 in der Beratenden Versammlung Badens Download als PDF      
X. Ablehnung der Badischen Landesverfassung. Rede am 16. April 1947 in der Beratenden Versammlung des Landes Baden Download als PDF
XI. Bodenreform. Rede am 4. Februar 1948 im Badischen Landtag Download als PDF
XII. Sozialistische Volkspartei Deutschlands. Kommentar in der Parteizeitung Unser Tag vom 5. Mai 1948 Download als PDF
XIII. Krieg oder Frieden. Rede am 22. Mai 1948 im Harmoniesaal Freiburg Download als PDF      
XIV. Währungsreform: die Spaltung Deutschlands. Rede am 22. Juni 1948 im Badischen Landtag Download als PDF      
XV. Potsdamer Beschlüsse verwirklichen. Rede am 6. Juli 1948 im Badischen Landtag Download als PDF      
XVI. Währungsreform und Marshallplan. Rede am 20. Juli 1948 im Badischen Landtag Download als PDF      
XVII. Gegen Separatstaat BRD. Rede am 5. August 1948 im Badischen Landtag Download als PDF      
XVIII. Gerechte und soziale Währungsreform für ganz Deutschland. Rede am 31. August 1948 im Badischen Landtag Download als PDF      
XIX. Segnungen der freien Marktwirtschaft. Rede am 12. November 1948 im Badischen Landtag Download als PDF      
XX.   Aussprache über die Regierungserklärung. Rede am 25. März 1949 im Badischen Landtag Download als PDF      
XXI. Aussprache über das Grundgesetz. Rede am 18. Mai 1949 im Badischen Landtag Download als PDF      
XXII. Diskussionsbeitrag auf der 14. Parteivorstandstagung der KPD am 29. Dezember 1949 Download als PDF      

   
 
 

Heinz Kappes (1893-1988) Download als PDF
   
 

Eckert ist dem Dienst der Kirche entlassen.
Der theologische Kampf der religiösen Sozialisten gegen das nationalsozialistische Christentum (1931)


Eckert ist dem Dienst der Kirche entlassen.

Eckert ist aus der Kirche und aus dem Bund religiöser Sozialisten ausgetreten.

Nach 8 ½ stündigen Verhandlungen hat das kirchliche Dienstgericht unter dem Vorsitz des Karlsruher Oberbürgermeisters Dr. Finter am 11. Dezember 1931 folgendes Urteil gefällt:

Eckert ist aus dem Dienst der Kirche entlassen mit der Wirkung des Verlustes der Amtsbezeichnung, des Einkommens, des Anspruchs auf Ruhegehalt und der Hinterbliebenenversorgung sowie des Rechts zur Vornahme von Amtshandlungen.


Die schriftliche Urteilsbegründung liegt noch nicht vor. In der mündlichen Begründung wurde dem Sinn nach etwa folgendes gesagt:

  1. Das Programm der 3. Internationale von 1928 fordere den Kampf gegen die Religion und die Kirche. Es gestehe zwar die Freiheit des Bekenntnisses zu, verlange aber gleichzeitig antireligiöse Propaganda.
  2. Die Grundlage des Kommunismus sei der wissenschaftliche Materialismus, aus dem sich der Atheismus ergebe, den die kommunistische Internationale propagiere.
  3. Die KPD betätige dies Programm, sie führe einen entschiedenen Feldzug gegen Religion und Kirche durch besondere Organisationen, die ihr angegliedert sind.
  4. Es bleibe dahingestellt, ob es an sich mit dem Pfarramt vereinbar sei, daß ein Pfarrer Mitglied der KPD werde. - Untragbar für die Kirche aber sei ein Pfarrer, der zur KPD als „revolutionärer Marxist“ gegangen sei und für sie agitiere. Wenn ein Pfarrer nicht mit der Absicht der KPD beitrete, dort das Evangelium zu verkünden, dann verstoße er gegen seine Amtspflichten.
  5. Die Erklärung der KPD beim Übertritt des Pfarrers Eckert, daß sie ihm wegen seines Berufes und seiner Weltanschauung keine Bedingungen stelle, bedeute keine Abkehr der KPD von ihrer antireligiösen Taktik.
  6. Eine Vertagung der Entscheidung bis zu dem Zeitpunkt, wo Erfahrungen darüber vorlägen, ob Eckert als Pfarrer in der Partei Einfluß gewinnen könne, könne das Gericht nicht beschließen, da eine Prüfung dieser in der Zukunft liegenden Möglichkeit Aufgabe der Verwaltungsbehörde sei. Man habe den Begriff „Strafe“ vermieden, um zum Ausdruck zu bringen, daß man kein ethisches Werturteil fällen wolle, sondern nur feststelle, daß die agitatorische Wirksamkeit in der KPD. mit dem Pfarramt unvereinbar sei.
  7. Auch eine Pensionierung komme nicht in Frage, da Eckerts politische Betätigung damit doch unter der Disziplinargewalt der Kirchenbehörde verbleibe. - Dagegen werde die Anwendung des § 21 des Dienstgesetzes offen gelassen, wonach die Kirchenregierung das Recht der „Begnadigung“ habe für den Fall, daß Eckert als Pfarrer und Vertreter seiner Kirche in der KPD wirke, und diese sich dadurch in ihrer Haltung gegenüber der Religion und Kirche umstelle.

Eckert schreibt zu diesem Urteil in der Mannheimer „Arbeiterzeitung“ vom 12. Dezember 1931 folgendes:

„Die Regierung der badischen Landeskirche und das kirchliche Dienstgericht haben durch meine Dienstentlassung bewiesen, daß sie den Aufgaben und Spannungen des wirklichen Lebens in unserer Zeit verständnislos gegenüberstehen. Sie haben durch meine Amtsenthebung bestätigt, daß ihnen nicht das Geringste daran gelegen ist, mit dem klassenbewußten revolutionären Proletariat in Zusammenhang zu kommen. Sie haben die Kirche nun eindeutig in die kapitalistisch-faschistische Klassenfront eingeordnet. In der gleichen Zeit, in der die Kirche mich wegen meines Übertritts zur KPD entläßt, duldet sie nationalsozialistische Geistliche in ihrem Pfarramt, die besondere SA-Gottesdienste und Feldgottesdienste in der Zeit des angeordneten Gemeindegottesdienstes abhalten, die ungehindert für den Faschismus agitieren und organisieren.

Die Begründung des Urteils zeigt, wie wenig die Kirche darüber nachgedacht hat, woher der „Atheismus“, die Kirchen- und Religionsfeindschaft des Proletariats kommt, wie wenig sie bereit ist, Buße zu tun für die große Schuld, die sie in ihrer Abhängigkeit von der bürgerlichen Gesellschaft der Masse gegenüber auf sich lasten hat Nach meiner festen Überzeugung, das hat auch die grundsätzliche philosophische Diskussion während der Verhandlung ergeben, ist die Kirche rettungslos verloren.

Sie muß als ein Teil der innerlich faul und kraftlos gewordenen bürgerlichen Klassenfront zugrunde gehen.
Ihre Führer sind verstockt und blind. Sie haben Angst vor dem Zorn kleinbürgerlicher „Kirchenchristen“ gegen einen kommunistischen Pfarrer. Wenn mich die Kirche so nicht mehr als Pfarrer tragen kann, weil ich Kommunist bin, so schließt sie mich damit aus ihren Reihen aus. Sie wird das natürlich nicht ausdrücklich tun, sie wird noch nicht einmal zugeben, daß das der Fall sei. Sie will nicht gern die Hunderttausend und Millionen kommunistischer Wähler, die noch in der Kirche sind, offensichtlich ausschließen, das könnte ihrer Existenz doch einen zu großen Stoß geben.

Darum erklärte ich von mir aus meinen Austritt aus dieser Kirche, auch schon deshalb, damit ihre Führer merken, daß ich nicht daran denke, irgendeinmal als kirchlicher „Missionar“ in der KPD. „begnadigt“ zu werden.

Ich glaube, daß ein wirklich frommer Mensch aus dieser Kirche austreten muß, die jeden Kontakt mit den lebendigen schöpferischen Kräften verloren hat und zum Instrument bürgerlicher Ängstlichkeit vor dem Kommunismus, dem die Zukunft gehört, geworden ist.

Mein Kirchenaustritt bedeutet zugleich meinen Abschied vom Bund der religiösen Sozialisten. Über 10 Jahre habe ich mit anderen Genossen versucht, einen Weg von der Kirche zum revolutionären Sozialismus und umgekehrt anzubahnen. Der Ausgang der Kämpfe mit der Kirche in dem Augenblick, in dem ich auch nach außen hin unbezweifelbar von meiner revolutionären Entschlossenheit Bekenntnis ablegte durch meinen Beitritt zur KPD hat für mich bewiesen, daß es aussichtslos ist, die Kirche irgendwie in Kontakt mit dein Sozialismus für den Neubau der menschlichen Gesellschaft einzusetzen. Die Erfüllung der Aufgabe des Bundes „Durch christlichen Glauben zu sozialistischem Kampf! Durch sozialistischen Kampf zu christlichem Glauben!“ ist in den Kirchen nach den bitteren Erfahrungen dieser 10 Jahre für mich aussichtslos. Ja, der Bund ist bei dieser Sachlage eher eine Hemmung für den revolutionären Klassenkampf als eine Hilfe zur Vorbereitung des Sozialismus. Er erweckt die gefährliche Illusion, als könne man von den Kirchen irgend etwas im Kampf des Proletariats um seine Befreiung erwarten. Darum trete ich auch aus dem Bund der religiösen Sozialisten Deutschlands aus.

An meiner inneren Haltung, an meiner Weltanschauung ändert sich weder durch meinen Kirchenaustritt, noch durch meine Trennung vom Bund der religiösen Sozialisten das Geringste.

Ich werde aber keine „kommunistische Kirche“ und keinen „Verband religiöser Kommunisten“, keine Sekte ins Leben rufen, wie voreilige Leute das wissen zu können glauben, sondern in der KPD aus dem Glauben und in der Erkenntnis ihrer großen Aufgaben kämpfen um die Neugestaltung des Lebens in einer Gesellschaft, in der mehr Gerechtigkeit sein wird, mehr Wissen um die Zusammengehörigkeit aller Menschen, als in der heutigen kapitalistischen Gesellschaft.“
Das Dienstgericht.

Der Vertreter der Anklage Dr. Friedrich legte eine 44 Seiten umfassende Anklageschrift vor. Er führt folgenden „Beweis“: Die Weltanschauung, von der Karl Marx beherrscht, sein ökonomisches System schuf, ist der Materialismus, der dialektische und ökonomische Materialismus, für den alles Geistige nur der Widerschein der Materie ist, „Religion Opium für das Volk“, und „die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glückes des Volkes die Forderung des wirklichen Glückes“ ist. Hinsichtlich des Kommunismus beruft er sich auf das „Programm der Kommunistischen Internationale“ vom 6. Weltkongreß der KI Juli/September 1928, worin der „hartnäckige und systematische Kampf gegen die Religion“ gefordert ist. Zwar wird dort die Freiheit des Bekenntnisses zugelassen, aber mit allen Mitteln antireligiöse Propaganda verlangt. Weitere Beweismittel sind ihm die Äußerungen Lenins über die Religion, zitiert nach Band 4 der „Kleinen Lenin-Bibliothek über Religion“, wonach „der Materialismus, absolut atheistisch, jeder Religion entschieden feindlich gegenübersteht“. Daraus zog Lenin den Schluß, daß „eine unermüdliche atheistische Propaganda entfaltet und ein unermüdlicher Kampf für den Atheismus geführt“ werden müsse. Für Dr. Friedrich geht nun die Linie seiner Beweise konsequent (!) zur „Internationale proletarischer Freidenker“ und ihrer Forderung (1925), „daß für den Staat Religion Privatsache ist, aber für jede proletarische Partei die Religion nicht Privatsache sein kann, sondern von den Führern und Funktionären der proletarischen Bewegung verlangt werden müsse, daß sie voll und ganz auf dem Boden des Marxismus stehen, der mit jeder religiösen Ideologie unvereinbar ist“. Nach dem Bruch zwischen sozialistischen und kommunistischen Freidenkern (1930) erklärte die kommunistische IpF als ihr Ziel, daß „die tiefsten Wurzeln des religiösen Aberglaubens ausgerottet und die Menschheit vom Opium der Religion befreit wird“. Mit der Gründung des „Verbandes proletarischer Freidenker Deutschlands“ (1931) sei der Kampf der „Gottlosen“ in Deutschland erst aktiv geworden, eine Scheidung zwischen KPD und VpFD sei unmöglich: „der VpFD ist die KPD in ihrem kulturpolitischen und zwar in ihrem religions- und kirchenpolitischen Programm“ (Dr. Friedrich). Und nun hat Dr. Friedrich freies Feld, um alle freidenkerischen Kulturorganisationen in der KPD bis zu den Schallplatten zu zitieren und grausliche Dinge über die Kampfmethoden der Ifa- und Agitprop-Truppen den Richtern darzustellen. (Jeder von uns religiösen Sozialisten, die wir doch in wirklicher Auseinandersetzung mit dieser Agitation stehen, hätte noch viel schlimmere Dinge berichten können!). Aus dem obigen und weiteren Zitaten aus Lenin, wonach aus Opportunismus zwar einmal, als unwahrscheinlicher Ausnahmefall, ein Pfarrer bei der KPD toleriert werden könne, führt nun Dr. Friedrich „in schlüssiger Form den Nachweis“, daß „die KPD wesensmäßig dem Christentum, auch in seiner evangelischen Ausprägung, und der Kirche, auch der evang. Landeskirche Badens, feindlich gegenübersteht“, sie ist „das Gegenteil der Kirche, ihre Negation“. Deshalb: „Ein Geistlicher unserer Landeskirche kann daher niemals ein sich für diese Partei einsetzendes Mitglied derselben sein“. - Da nun der Pfarrer nicht auf der einen Seite das Wort Gottes verkünden, und auf der anderen Seite sich zu dieser Partei in aller Öffentlichkeit bekennen könne, die Gott leugnet, da ferner der Pfarrer mit einem musterhaft christlichen Lebenswandel in und außer dem Amt den Gemeinden voranleuchten müsse, - sei Pfarramt und Mitgliedschaft bei der KPD unvereinbar. Damit wird von Dr. Friedrich dann die (in Abwesenheit der religiösen Sozialisten und entgegen dem Versprechen des Vorsitzenden gegenüber Eckert, daß keine Festlegung erfolgen werde) Resolution des Mannheimer Kirchengemeinderats vom 9. Oktober 1931 gebilligt, wonach „Eckert im Amt als Pfarrer in Mannheim nicht mehr tragbar“ sei. Als wichtigstes Beweisstück wird aber von Dr. Friedrich die Erklärung Eckerts in den Versammlungen vor seiner Rußlandreise zitiert, daß er „als revolutionärer Marxist und nicht als Pfarrer zur KPD gekommen sei“. Der Pfarrer könne sein Amt nicht zeitweilig abstreifen und dann frei und ohne Rücksicht auf sein Amt sich betätigen.

Dieser Anklageschrift hatte der Verteidiger Dr. Dietz* einen sehr gründlichen Schriftsatz entgegengestellt, welcher das ganze Problem der Vereinbarlichkeit von Marxismus und Christentum aufrollte und nachwies, daß die persönliche atheistische und materialistische Einstellung von Marx und Engels für den von ihnen begründeten „Kommunismus“, d. h. die Verbindung von proletarischer Arbeiterbewegung und Sozialismus, nicht Wesensgrundlage ist, und sie es deshalb abgelehnt haben, Atheismus und Materialismus, Religions- und Kirchenfeindschaft zu Grundsätzen der von ihnen begründeten oder auf sie zurückgehenden politischen und wirtschaftlichen nationalen und internationalen Organisationen zu machen. Dr. Dietz wies auf die Tatsache hin, daß 90 Prozent aller abgegebenen kommunistischen Wahlstimmen auf Angehörige der Kirche entfallen. Er rechtfertigte, daß Eckert eben nur als „revolutionärer Marxist“ zur KPD kommen konnte. Er wies auf die historische Bedeutung der Tatsache hin, daß die KPD mit der Anerkennung des Pfarrers Eckert zum Ausdruck brachte, daß ein auf dem Boden des Christentums und des Bekenntnisstandes seiner Landeskirche stehender amtierender evang. Geistlicher öffentliches und tätiges Mitglied ihrer Organisation sein könne. Er verwies auf Eckerts Erklärung, daß das Zentralkomitee der KPD von ihm weder die Aufgabe seiner Weltanschauung noch seines Pfarramtes verlangt habe, und ferner auf die Antwort des kommunistischen Reichstagsabgeordneten Schneller an Genossen Lic. Dr. Piechowski, wonach „Eckert wegen seiner Zugehörigkeit zur Kirche und wegen seiner Tätigkeit als Pfarrer keinerlei Bedingungen gestellt worden“ seien, und auch „die Aufnahme des Genossen Eckert für uns keine Frage der Opportunität ist, sondern erfolgte in völliger Übereinstimmung mit unseren Grundsätzen“. Dr. Dietz schrieb: „nur eine verständnislose und gehässige politische und wirtschaftliche Gegnerschaft kann es unternehmen wollen, ihm in seinem schweren Kampf in den Rücken zu fallen und ihm wegen seines Übertritts zur KPD den Anspruch auf Achtung und Würde des Amtes abzusprechen. Jeder in dieser Richtung nicht vollständig voreingenommene Angehörige der evang. Landeskirche muß umgekehrt den Schritt Eckerts als eine „Tat“ von historischer Tragweite auch im Interesse der evang. Landeskirche begrüßen und ihm gerade wegen der hiermit übernommenen schweren Opfer und Verpflichtungen in ganz besonderem Maße seine Hochachtung und Wertschätzung als Geistlicher der evang. Landeskirche aussprechen“.
In der fast vierstündigen Beweisaufnahme und Vernehmung zeigte sich die ganze Verständnislosigkeit des Gerichtes für eine dialektische Betrachtung des Verhältnisses von Religion und Marxismus. Eckert erzählte, wie er in Rußland mit den verschiedenartigsten Führern der Gottlosenbewegung diskutiert hatte, wie er seine Ablehnung des praktischen Materialismus dort aufs Schärfste betont und erfahren habe, wie dort um diese Frage gerungen werde und noch alles im Fluß sei. Eckert fragte, mit welcher Begründung ihn denn die Kirche bei seinem Standpunkt absetzen wolle. Er bekannte bei seinem Kampf gegen die zeitgebundene heutige Kirche seinen Glauben an Christus, das ewige Fundament der Kirche, das jenseits von bürgerlich und proletarisch liege. Es sei beim Kommunismus kein grundsätzlich anderes Verhältnis zur Religion als beim Sozialismus. Er sei aus politischen Gründen Kommunist geworden. Auf der politischen Ebene kämpfe er für den Kommunismus, aber in der religiösen Verkündigung, auf der Kanzel, sei er Prediger des Evangeliums.

Die Plädoyers führten die oben zitierten Gedanken noch weiter aus. Dr. Dietz schloß seine Rede mit dem bekannten Zitat aus Lassalle „Die Besten müssen springen in den Riß der Zeit..!“ Eckert erklärte, daß er seinen kommunistischen Kampf mit allen Konsequenzen führen werde bis auf seine Gläubigkeit, die ihn von den Freidenkern trenne. - Nach zwei Stunden wurde das Urteil verkündet.

Was sagen wir zu dem Urteil?

Der Vorsitzende nannte die Situation des Gerichts eine „tragische“. Er hätte gewünscht, daß die Kirchenregierung auf dem Verwaltungswege eine Lösung ohne Urteilsspruch gefunden hätte. Das hatte die Kirchenregierung sich verbaut, indem der Präsident bei der Vernehmung vor jenem Beschluß der Kirchenregierung zur Einleitung des Verfahrens als einzige Lösung die freiwillige Amtsniederlegung von Eckert verlangte. Von allen Seiten war die Kirchenregierung seit ihrem Suspendierungsbeschluß gewarnt worden. In den liberalen und landeskirchlichen Blättern, durch einen Brief von D. Rade an das Gericht, durch unzählige Stimmen war auf das Epochemachende von Eckerts Schritt hingewiesen worden. Auch Präsident D. Wurth hatte wohl ein Gefühl für das Tragische dieser Entscheidung. Aber: es überwog eben doch der Wille, den Mann Eckert loszuwerden; es überwog die Gebundenheit an jene vorläufig einflußreichen Schichten des „Kirchenvolkes“, welche den Marxismus ausrotten wollen; es überwog die kleingläubige Angst, aus der heraus man, aufgerichtet am „Mut der SPD, die konsequenter war als das Dienstgericht vom Juni“, die starke Hand zeigen wollte. Eine weise Kirchenregierung hätte, wenn sie in so politisch bewegten Zeiten eine „Zerreißung der Kirche“ befürchtet hätte, auf dem Verwaltungsweg Eckert solange pensioniert, als seine von ihm freiwillig übernommene politische Aktivität ihn zur Verwaltung eines Gemeindepfarramtes ungeeignet erscheinen ließ. Und sie hätte (und noch viel mehr der Deutsche Evang. Kirchenbund!) Eckert zu ihrer Information über deutsche und russische Verhältnisse in der Frage „Proletariat und Religion“ herangezogen. Sie hätte dann konsequenterweise jeden vorwiegend politischen Pfarrer, etwa jeden Reichstagsabgeordneten, gleichviel welcher Partei, auch pensioniert. Sie hätte damit kein Urteil gefällt, keine Beziehung abgerissen, jederzeit Eckert die Rückkehr in die Gemeindearbeit freigestellt, und ihm während seiner politischen Tätigkeit die Predigtkonzession selbstverständlich gelassen. - So mußte das Gericht entscheiden, starr, über die Gegenwart, statt über das Werdende! Es mußte den Weg Eckerts als unmöglich erklären, bevor überhaupt über die Möglichkeit eine Erfahrung gewonnen war! Von neun Richtern mußten sich sieben auf den Urteilsspruch einigen. Daß dann, ‚wenn unter den Richtern zwei Oberstaatsanwälte, zwei Mitglieder der vorher festgelegten Kirchenregierung, zwei konservativ eingestellte Pfarrer waren, dies Gericht schließlich über den „revolutionären Marxisten“ strauchelte, ist erklärlich.

Der gesamte Bund der religiösen Sozialisten Deutschlands protestiert gegen diese Entscheidung! Er ist jetzt schon die Stimme des Gerichts, das einst über diese Kirchenregierung in derselben Starrheit das Urteil sprechen wird! Und der Bund wird, solange noch eine überwiegende Masse der Sozialisten und Kommunisten in der Kirche sind, alles daran setzen, eine solche unzulängliche Kirchenregierung zu stürzen!

Eckert ist aus der Kirche ausgetreten!

Er hatte schon vorher angekündigt, daß die Kirche, wenn sie ihn als Pfarrer nicht tragen könne, ihn und alle revolutionären Marxisten automatisch ausschließe. Eckert wird kein Freidenker werden. In seiner Schau ist das Soziologische (bürgerlich-reaktionäre) bei der Kirche so heillos überwiegend, daß alles wesensmäßig Christliche nicht mehr in dieser Form zur Entfaltung kommen kann. Er sieht das Gericht über die Kirche sich schnell vollziehen. Er geht nicht aus Ressentiments, sondern aus einer Frömmigkeit, die nichts mehr von diesen Kirchen erhoffen kann. - Das ist das Gefährlichste für die Kirche!

Zweifellos wird sein Austritt der Kirchenflucht bei Kommunisten und Sozialisten neuen Auftrieb geben. Einstweilen sind - in den Wochen des Versammlungsverbots - die Bewegungen latent. Für den Bund bleiben die aus solchen Motiven Ausgetretenen selbstverständlich Bundesgenossen! Wir können nicht mit Pathos rufen: „Kommt herein in die Kirche!“ Diese Kirchenführung hat uns selbst schon allzu sehr den Glauben daran erschüttert, daß die Kirche noch einer Umgestaltung fähig ist. Wir wirken als „Missionare“ unter dem sozialistischen und kommunistischen Proletariat. Aber dadurch, daß wir an ihrem sozialistischen Glauben teilhaben. Und nicht wie jene kirchlichen Apologeten, welche den Freidenkern zuerst ihren Marxismus madig machen wollen, um sie dann zum Christentum zu „bekehren“, hinter denen jeder Proletarier den politischen Agitator wittert. Zu Marxisten kann man nur kommen als Marxist, zu Kommunisten als revolutionärer Marxist. Hat denn die Kirche je bei revolutionären Nationalsozialisten nachgeprüft, ob sie als Pfarrer zu ihrer Partei kamen, ob sie „noch auf dem Boden des Bekenntnisstandes der Landeskirche“ stehen? Man könnte mit unchristlichen Zeugnissen nationalsozialistischer maßgebender Stimmen in schlüssiger Form den Beweis führen, daß Christentum und Nationalsozialismus unvereinbar sind, ja daß, weil man sich zum „positiven Christentum“ „bekennt“, die Unvereinbarkeit zwischen Parteizugehörigkeit und Pfarramt noch viel größer ist. Dort redet man von missionarischen Aufgaben; vielleicht glaubt man sogar, daß sie durch Standartenweihen und SA-Gottesdienste erfüllt werden! Dort läßt man die sich fälschlich auf Luther berufende Rechtfertigung zu, daß Politik und Kirche zwei grundsätzlich getrennte Gebiete seien, die unter eigenen Gesetzen stehen. So tut man vonseiten der Kirche alles, um ja dem Proletariat zu beweisen, daß die Kirche bürgerlich-faschistisch ist.

Die Antwort der KPD zeigt, wie sie den Schlag gegen Eckert parieren wird. Im Leitartikel „Unsere Antwort zur Amtsenthebung des Pfarrers Eckert“ der Mannheimer „Arbeiterzeitung“ vom 14. Dezember 1931 steht (neben sehr infamen Ausfällen gegen die SPD und die Pfarrer in der SPD.): „Die Kirche hat sich unduldsamer erwiesen wie wir, weil sie schwächer ist. Mit ihrem Urteilsspruch hat sie sich, gezwungen durch unseren Angriff, endgültig in die Verteidigung begeben. Sie verteidigt eine unwürdige Vergangenheit und eine qualvolle Gegenwart. Wir sind, Eckert in unserer Mitte, im Angriff.“[...] „Durch ihr Urteil entlarvte sich die Kirche. Die gleichen Kirchenbehörden, die den Gen. Eckert hinausexpedierten, stehen in freundschaftlichem Verhältnis zu nationalsozialistischen Geistlichen. So erweist sich die Kirche als ein Organ der herrschenden Klasse [...] „Der Kommunismus ist eine geschlossene Weltanschauung. Es gibt keinen Kommunismus, der sich teilen und auf bestimmte Gebiete, unseretwegen in der Politik oder auf kulturelle Fragen anwenden läßt. Gerade das untrennbare Gefüge des Kommunismus macht ihn zur stärksten Weltanschauung, der keine Religion gewachsen ist[...]. „Es ist müßig, jetzt darüber zu diskutieren, ob Eckert seinen Glauben behält oder nicht. Entscheidend ist, daß er mit uns als Mitglied der kommunistischen Partei den Kampf gegen alle Volksfeinde in allen Fronten führt. Unsere Antwort an die Kirche ist verschärfter Kampf gegen sie als Organ der Unterdrückung und Irreführung. Die Sozialdemokratie kettet durch ihren Kampf um Pfarrerposten die Massen an die Kirche. Im Kampf gegen die faschistische Reaktion und die Sozialdemokratie entreißen wir der Kirche die Massen und führen sie der proletarischen Klassenfront zu.“

Eckert ist aus dem Bund ausgetreten!

Er hat in seinem Artikel die sachlichen Gründe angegeben. Bei seiner Stellung zur Kirche kann er eine Bewegung, die ein so starkes Gewicht auf die aktive kirchenpolitische Arbeit in der Kirche legt, nicht führen. Und: Verantwortung für eine Bewegung fragen, heißt eben bei Eckert - sie führen. Bei seiner Sicht, daß „in wenigen Jahren schon die Kirche erledigt sein werde“, lohnt für ihn eine Arbeit nicht mehr, welche das Religiöse zu einer Sondersphäre des Lebens macht. Die Hauptsache ist der sozialistische Aufbau. Alle Glaubenskräfte Eckerts verzehren sich also nur in der politischen Tätigkeit. Er wird nur noch mit profanen Worten, d. h. politisch, von seinem Glauben zeugen, wie es ja vor einer Generation die Pfarrer taten, die unter Aufgabe ihres Amtes zum Marxismus der Sozialdemokratie gingen.

Der Bund bedauert Eckerts Austritt aus sachlichen Gründen. Wenn durch diese einseitige Betonung des Politischen, seit dem sich die politischen Gegensätze im Proletariat zuspitzten, also seit dem Frühsommer, die Gefahr der Zerspaltung des Bundes aus politischen Gründen akut geworden ist, und der Bundesvorstand um der eigentlichen religiösen Aufgabe des Bundes willen sich von Eckert schon vor seinem Eintritt in die KPD distanzierte, - so war doch genug Willen zum Ringen um die gemeinsame Aufgabe vorhanden, so daß eine Trennung Eckerts nicht nötig gewesen wäre. Seine Kennzeichnung des Bundes als Hemmnis für den sozialistischen Aufbau, wegen seiner Arbeit in den Kirchen, wäre richtig, wenn nicht gerade unsere Stellung zur Kirche und zum marxistischen Proletariat eine dialektische wäre! Eckerts Urteile sind zu linear und starr, um richtig zu sein.

Daß auch persönliche Mißverständnisse eine Nebenrolle spielen, soll nicht verschwiegen werden. Vor Eckerts Abreise wurde mit seiner Zustimmung beschlossen, daß Göring den 1. Vorsitz und Dr. Schenkel mit Eckert die Schriftleitung übernehmen sollen. Die Schwierigkeiten im Bund erforderten es, daß der Vorstand darüber hinausging und zwar Eckerts Verbleiben im Bundesvorstand für nötig hielt, aber aus praktischen Gründen, solange er als politischer Vorkämpfer der KPD so gut wie ausschließlich wirkte, die Hauptämter des Bundes aus reinen Zweckmäßigkeitsgründen anderweitig besetzen wollte. Definitive Regelungen sollten erst nach Rücksprache mit Eckert getroffen werden. - Eckert müßte die sachliche Motivierung dieser Beschlüsse verstehen und sie nicht als Untreue gegen den bisherigen Führer persönlich nehmen.

Die bitteren und ungerechten Worte, welche im Zeitungskampf und persönlich gewechselt worden sind, als Eckert seinem Austritt aus dem Bund die Proklamation folgen ließ, der Bund sei liquidiert und existiere nicht mehr, müssen vergessen sein. Der Bund lebt und ist heute wichtiger als je. Wenn Eckert aus Glauben in der KPD wirkt, dann ergeben sich mit Notwendigkeit nimmer wieder die Möglichkeiten zu gemeinsamer Arbeit. Der Glaubenskampf um das Reich Gottes unter den Menschen ist das Hauptanliegen des Bundes. Darum ist der Bund allen, die mit gutem Willen als Kommunisten oder Sozialdemokraten um die Verwirklichung des Sozialismus ringen, in gleicher Weise offen, wenn diese religiöse Bindung ihnen das Wesentlichste ist. Wir bejahen die großen Aufgaben, die Eckert in der KPD zu erfüllen hat. Wenn wir trotz der vorläufigen Trennung diese Verbundenheit aufrecht erhalten, dann ist der Bund durch diese Krisis hindurch nur noch weiter, stärker und tiefer geworden. Heinz Kappes.

In: ZRS 1932, S. 5-14

*Vgl. „Das religiöse Problem des Marxismus“ von Dr. Dietz.



Der theologische Kampf der religiösen Sozialisten gegen das nationalsozialistische Christentum (1931)

Vorbemerkungen:

Der folgende (umgearbeitete und erweiterte) Vortrag steht unter dem Gesamtthema: „Reich Gottes - Sozialismus ‑ Marxismus.“ Er sucht darzustellen, wie hinter der gegenwärtigen wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Faschismus zugleich ein Ringen um die Neuerfassung des Christentums vom Reich‑Gottes‑Glauben her stattfindet.

Dabei wird im Folgenden nur die Auseinandersetzung in der evangelischen Kirche behandelt. In der katholischen Kirche ist ebenfalls ein lebhafter Kampf im Gange. Er ist andersartig und kann hier nur angedeutet werden. Einstweilen wird noch die ganze Autorität des kirchlichen Lehramts gegen den Nationalsozialismus wegen seiner „Irrlehren“ und wegen seiner für den Katholizismus bedenklichen Ethik eingesetzt, und es wird gegen katholische Geistliche, die in der nationalsozialistischen Bewegung aktiv tätig sein wollen, vorgegangen. Der Universalismus der katholischen Kirche kämpft gegen den Universalismus des faschistischen Staatsabsolutismus um die Suprematie auf dem Gebiet der Seelenführung; die Kirche wehrt sich gegen den Rassekult eines „arischen Christentums“, gegen die Proklamierung einer „Deutschen Volkskirche“, welche Protestantismus und Katholizismus harmonisieren will. Die Position der katholischen Kirche ist in den Gegenden mit einer kirchentreuen, gläubigen Bevölkerung aus organisatorischen Gründen noch relativ stark. Aber sie wird dort schwach, wo die katholischen Sozial‑ und Wirtschaftstheorien des Romantismus und Solidarismus sich auseinandersetzen müssen mit den wesensgleichen, nur unvergleichlich stärkeren des faschistischen Romantismus und Solidarismus. Mit ihrer faszinierenden Agitationskraft brechen die Nationalsozialisten über die konfessionellen Grenzen hinaus auch in die Reihen der katholischen Bauern und Kleinbürger ein. „Es besteht die Gefahr, daß dann der katholische Kleinbürger dahin stößt, wo seine nicht‑katholischen Schicksalsgenossen seit dem Aufbruch der nationalsozialistischen Bewegung marschieren, oder daß er innerhalb des Katholizismus eine nachbarlich empfindende Kolonne organisiert“ (Walter Dirks in „Katholizismus und Nationalsozialismus“, in „Die Arbeit“ März 1931). Für eine solche soziale Entwicklung würde dann wohl die katholische Kirche eine nachträgliche ideologische Rechtfertigung geben, welche ihr nach dem Inhalt der neuen Enzyklika zur Arbeiterfrage nicht sehr schwer fallen würde und welche sich mit einer Neutralitätserklärung des Nationalsozialismus gegenüber der katholischen Weltanschauung im Sinne Hitlers zufrieden geben könnte. Aber dann müßte erst recht der Kampf der katholischen Sozialisten beginnen, welche auf dem Boden der marxistischen Kritik des Kapitalismus als entschlossene Sozialisten nun innerhalb des Katholizismus und aus seiner Glaubenswelt heraus mit einem besseren Rüstzeug als die jetzige katholische Kirche auf dem politischen, wirtschaftlichen und religiösen Gebiet die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus führen müßten. Dieser Kampf wäre in der Methode verschieden, aber in der Energie und Zielrichtung dem gleich, den die religiösen Sozialisten in der evangelischen Kirche kämpfen; nur besteht im Protestantismus heute die Situation, daß die Kirche als solche den Nationalsozialismus freundlich toleriert.

Der Nationalsozialismus wie der Marxismus drängen nach einer eigenen Theologie hin. Alle Spannungen und Kämpfe, welche auf der Ebene des politischen und wirtschaftlichen Geschehens entstehen, müssen auch in den höchsten Sphären der Weltanschauung und Theologie ausgetragen werden. Darum wurde der Kampf, der sich auf dem politischen Gebiet seit Ende 1930 fast bis zum Bürgerkrieg steigerte, auch zu einem Kampf in der Kirche, der sie bis in ihre Fundamente erschüttert. Der äußere Anschein verdeckt diese Tatsache. Das marxistische Proletariat ist entweder gleichgültig oder ablehnend gegenüber der Kirche; die Gottlosenbewegung und das Freidenkertum haben heute Werbekraft und bekämpfen die Kirche von außen. Die höheren Schichten des Bürgertums stehen indifferent in der Kirche gegen die Kirche. Die sozialen Schichten des Bauern‑ und Bürgertums, welche das sogenannte Kirchenvolk repräsentieren, sind meist nationalsozialistisch. So könnte es erscheinen, als ob die Nationalsozialisten in der Kirche seien und die Marxisten draußen. Dann müßte eben der Kampf zwischen den beiden Theologien (wie heute schon weithin!) unter der Parole „Für oder gegen die Kirche“ gekämpft werden. Und es wäre zu erweisen, ob wirklich die Gottesgläubigen in der Kirche sind! Solange die religiös‑sozialistische Bewegung noch innerkirchlich arbeitet, wird der Kampf zwischen den Theologien noch in der Kirche ausgekämpft.

Die Kirche hat eine doppelte Funktion in der Welt zu erfüllen. Sie muß unablässig die Wahrheitsfrage stellen und beantworten; sie muß für die wechselnde und verwirrende Welt der Erscheinung eine Sinndeutung aus einer Welt des Absoluten her zu geben versuchen. Und weiter hat die Kirche die Ordnung der sittlichen Werte für das individuelle und soziale Leben zu vergegenwärtigen; sie soll also den persönlichen und gesellschaftlichen Willen durch die Verkündigung des offenbaren Willens Gottes bestimmen.

Im Ringen um die Erkenntnis der Wahrheit und des Willens Gottes steht aber die Kirche wie jedes ihrer Glieder in der gegebenen Welt. In dieser muß jeder Mensch politisch, wirtschaftlich, weltanschaulich Partei nehmen. Wer es vermeintlich nicht tut, bestärkt durch seine passive Haltung nur die Macht des Bestehenden. Infolgedessen muß auch die Kirche die ganze fast brückenlose Zerklüftung unseres Volks durch die politischen und wirtschaftlichen Gegensätze als zu ihrer eigenen Körperlichkeit zugehörig bejahen. Es ist eine unrealistische Fiktion, wenn man meint, Kirche könnte jenseits dieser Parteien existieren, gewissermaßen als eine Friedensinsel im stürmisch bewegten Meer. Das war nie so und wird nie so sein. Die kirchlich‑theologischen Parteibildungen und Parteikämpfe, welche die Kirchengeschichte erfüllen, standen immer in einem direkten Verhältnis zu den wirtschaftlich‑politischen Kämpfen der profanen Zeitgeschichte. Das gilt gerade für die Kämpfe zwischen „Positiv“ und „Liberal“ im vergangenen Jahrhundert.

Die „Kirche jenseits der Parteien“ existiert nie statisch als die vermeintliche „überparteiliche Kirche, in der Alle Brüder sind“, sondern nur dynamisch da, wo in der Verantwortlichkeit vor dem lebendigen, überzeitlichen, gegenwärtigen Herrn der Kirche die realen Antithesen profan und kirchenpolitischer Gegensätzlichkeit gleichzeitig behauptet ‑ und doch in der dialektischen Synthese des gemeinsamen gläubigen Ringens um das Reich Gottes aufgelöst werden. Nur diese kämpfende evangelische Kirche, welche die notwendigen Gegensätzlichkeiten wahrhaftig in sich austrägt, ist auch eine lebendige Kirche mit zentripetalen Kräften. Eine betont „überparteiliche“ evangelische Kirche wird sich bei näherem Zusehen immer als sehr parteiisch offenbaren und wird wegen ihrer fehlenden dialektischen Dynamik an ihren zentrifugalen Tendenzen sicher zugrunde gehen. Die „überparteiliche Kirche“ ist ein ebenso verdächtiger Begriff wie im politischen Leben die „Volksgemeinschaft“. Auch diese ist nie eine statische, sondern nur eine dynamisch‑funktionelle Wirklichkeit, die immer wieder zustande kommt in dem doppelten Kampf des ehrlichen Austragens der Antithesen und des gemeinsamen Ringens um die Synthese.

So ist es nicht nur gegeben, daß dem erbitterten Kampf zwischen Faschismus und Marxismus auf der politisch‑wirtschaftlichen Basis auch die scharfe Auseinandersetzung im kirchlichen „Überbau“ zwischen religiösem Nationalismus und religiösem Sozialismus parallel geht, sondern es ist für die Kirche notwendig, daß dieser Kampf in dem ausgedeuteten dialektischen Sinne prinzipiell und praktisch bis zur letzten Tiefe der Probleme wirklich ausgetragen wird.

Die religiösen Sozialisten dürfen für sich in Anspruch nehmen, daß sie um der Kirche willen schon seit dem Hervortreten der nationalsozialistischen Bewegung diesen Kampf führten, und zwar so, daß wirklich gekämpft und eine klärende Auseinandersetzung herbeigeführt wird. Pfarrer Eckert (Mannheim) als Schriftleiter des „Religiösen Sozialisten“ (früher „Sonntagsblatt des arbeitenden Volkes“) wies seit Jahren durch eine Fülle von Tatsachenmaterial über nationalisti­schen Mißbrauch von Kirche und Christentum und durch prinzipielle Erörterungen auf die Gefahren hin, welche den evangelischen Kirchen in Deutschland drohen. In den Landessynoden, in welchen die religiösen Sozialisten vertreten sind, wurde fast in jeder Tagung dieses Problem erörtert. Der Reichskongreß der religiösen Sozialisten in Stuttgart im August 1930 verhandelte ausführlich über „Faschismus und Christentum“. Und im November 1930 trat die religiös‑sozialistische Internationale auf Grund ihrer Basler Verhandlungen mit einem Aufruf „Christentum und Faschismus sind unvereinbar“ vor die Weltöffentlichkeit. Im „Deutschen Pfarrerblatt“ führten Mitglieder der religiös­sozialistischen Pfarrbruderschaft die Debatte gegen die Verfechter des Nationalsozialismus. Neben der „Zeitschrift für Religion und Sozialismus“ wiesen die der religiös‑sozialistischen Bewegung nahestehenden Zeitschriften „Eiche“, „Unruhe“, „Mutiges Christentum“, „Neuwerk“ immer wieder auf die Widersprüche zwischen faschistischem Geist und der Botschaft Jesu hin. Aber weit über das Literarische hinaus war es eben die öffentliche Rede, die Diskussion mit dem Gegner vor insgesamt mehreren hunderttausend Zuhörern, wo in Hunderten von Versammlungen teils auf der Basis der SPD, teils auf der des Bundes religiöser Sozialisten die Wortführer des Bundes den wirklichen Kampf austrugen. Da wurden die Fragen so entschieden gestellt, daß man sich nicht gut daran vorbeidrücken konnte, z. B. „Christuskreuz oder Hakenkreuz?“ Das war viel wirkungsvoller als die mancherlei literarischen Fragezeichen, welche wohlmeinende bürgerliche Theologieprofessoren den Grundsätzen der völkischen Bewegung beifügten.

Diese Kämpfe führten zu den bekannten politischen Kirchenprozessen um die Pfarrer Kleinschmidt (Thüringen) und Eckert (Baden), wo die Kirchenbehörden im subjektiven Wollen zu jener oben charakterisierten kirchlichen Überparteilichkeit, um die Kirche vor Erschütterungen zu bewahren, gedrängt durch die ihnen nahestehenden politischen Rechtskreise, objektiv parteiisch gegen die religiös‑sozialistischen Pfarrer vorgingen. Die Prozeßakten werden dem späteren Historiker reiches Material zu Quellenstudien darüber bieten, wie stark und aus welchen Gründen die herrschenden positiven Führer evangelischer Kirchen den Nationalsozialismus gegen den Sozialismus stützten und damit den Massenprotest der Linken in Versammlungen, Unterschriftsaktionen und in der Presse hervorriefen, von den sozialistischen bis weithin in die bürgerlichen Kreise hinein.

Die Kirchenbehörden haben in diesen Prozessen Niederlagen erlitten, obwohl z. T. sehr harte Geldstrafen über die religiös‑sozialistischen Pfarrer verhängt wurden. Die Kirchenbehörden mußten erklären und es sich von den Gerichten bescheinigen lassen, daß sie nicht politisch parteiisch sind und sein wollen. Daraus zieht nun die religiös‑sozialistische Bewegung das Ergebnis: Also gibt es für die evangelische Kirche prinzipiell keine bevorrechteten „christlichen“ Parteien mehr! Diese prinzipielle Klärung muß zur praktischen Wirklichkeit werden durch die Entmächtigung jener konservativen und nationalistischen Kreise, welche durch ihre Vormachtstellung der evangelischen Kirche heute noch das Gepräge geben, als ob evangelisch und reaktionär identisch wären. In dem Maß, wie diese Machtverschiebung durch Heranziehung der sozialistischen Kirchengenossen zu verantwortlicher Mitarbeit und Mitgestaltung gelingt, wird die Debatte: „Evangelium ‑ Nationalsozialismus ‑ Sozialismus“ in die breiteste Öffentlichkeit getragen. Dadurch wird die Resonanz geschaffen für die demonstrativen öffentlichen Disputationen, zu welchen die religiös‑sozialistischen Führer nun die nationalsozialistischen Pfarrer auffordern werden. Welche religiösen und theologischen Probleme diesen Disputationen zugrunde liegen, soll im folgenden erörtert werden. Zuerst bedarf es aber noch einer Betrachtung des „nationalsozialistischen Pfarrers“.

Der nationalsozialistische Pfarrer ist ein ziemlich eindeutig zu bestimmender psychologischer Typ. Viele dieser Pfarrer gehören der Generation an, welche sich im Krieg von der Universität weg freiwillig stellte und es bis zum Reserveoffizier brachte. Die stark gefühls‑ und willensmäßig bestimmten Menschen ‑ bzw. die willensschwachen mit deutlichen Überkompensationen ‑ mit Neigungen oder Gaben zur Volkstümlichkeit werden vom Elan der nationalsozialistischen Bewegung mitgerissen. Charakteristisch dafür ist etwa das Urteil eines Pfarrers im „Sonntagsgruß“ vom 5.4.31 über die nationalsozialistische Bewegung:

„Oft scheint es, als ob die Nationalsozialisten die einzigen wären, die trotz allen Zwanges der rauhen Wirklichkeit die Hoffnung auf den Sieg deutscher Wahrheit aufrechterhalten; die auch an eine deutsche Zukunft glauben und den Mut haben, darauf loszumarschieren. Weil ich auch immer noch an eine deutsche Zukunft glaube und darum ringe, habe ich die nationalsozialistische Bewegung lieb. In mir und jenen schlägt ein gleicher Rhythmus. Es ist Bein von meinem Bein, und wenn sie heute zugrunde gingen, würde ich versuchen, morgen Ähnliches neu zu gestalten. Sie mußten kommen, sie müssen da sein und sie werden siegen. ‑ Ich liebe die Nationalsozialisten, weil sie frisch drauf losmarschieren.“

Ganz unproblematisch, rein gefühlsmäßig stellen sich solche Pfarrer in die Bewegung:

„Ich bete jeden Abend mit dem Vaterunser, daß dies korrupte System (Republik) bald zugrunde gehen möchte. Ich wiederhole auch hier in dieser Versammlung, was ich schon in Zittau gesagt habe: daß dann genügend Hanfstricke vorhanden sein möchten!“ (Pfarrer Krieger [Eschefeld] in Meißen am 20.3.31.)

Oder:

„Das Herrlichste, das wir in unserem Kampf gegenwärtig erleben, ist, daß das, was wir hingeben, tausendfach in unsre Brust zurückgeht. Wir wollen nicht eines Tages einen Strohtod erleben, sondern wir wollen im Leben einen Sinn finden; wir wollen wissen, daß wir gelebt haben, zum Sieg und Durchbruch. Ewigkeit, das Wort ist Phrase, wenn wir sie nicht empfinden als Macht, der wir uns hingeben. Der Glaube muß in der Persönlichkeit aufgehen, sonst ist er tot. In Adolf Hitler sehen wir die Kräfte wieder aufbrechen, die einst dem Heiland gegeben wurden.... Unser Weg ist rauh, aber eins wissen wir , daß wir eine reine Seele dabei behalten! Auf ein Golgatha folgt auch eine Auferstehung. Noch stehen wir auf dem Weg nach Golgatha. Mancher wird auf ihm bleiben, doch die Seele, die kann man uns nicht rauben. In deine Hände geben wir unsern Geist, für Adolf Hitler sterben wir gern“ (Pfarrer Leutheuser [Flemmingen] nach „Peniger Tagblatt“ 20. 1. 31.)

Von da bis zu dem geistlichen Rat,

„führende Finanzgrößen an die Wand zu stellen und einige handfeste Männer nicht gerade mit Gesangbüchern ihnen gegenüber“ (Pfarrer Peperkorn (Viöl) in Wyk auf Föhr am 11.3.31)

ist es schließlich kein allzu weiter Weg mehr.

Das ist der Typ nationalsozialistischer Pfarrer, die (sogar im Braunhemd) in nationalsozialistischen Massenversammlungen auftreten, „Politik“ in der Weise treiben, daß sie den „christlichen Charakter“ des nationalsozialistischen Wirtschaftsprogramms herausheben, nämlich „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ und die „Brechung der Zinsknechtschaft“, die ihren gefühlsmäßigen Nationalismus als „gemäß der göttlichen Schöpfungsordnung“ verkündigen, die Adolf Hitler und den Nationalsozialismus als „gottgesandt“ proklamieren und in Standartenweihen in der Kirche, Feldgottesdiensten, Totengedächtnisfeiern mit waffengeschmücktem Altar, Kampfpredigten bei Bestattungsfeierlichkeiten für solche, die im politischen Kampf getötet wurden, ja die, mit dem Titel „Standartenpfarrer“ dekoriert, verkündigen, daß „sich die evangelische Kirche einig wisse mit der deutschen Freiheitsbewegung“.

Wird so für den Außenstehenden und vor allem für das der Kirche mißtrauisch gegenüberstehende marxistische Proletariat der Eindruck erweckt, daß die evangelische Kirche, wie früher monarchistisch, nun nationalsozialistisch sei ‑ und die Propagandaleitung der NSDAP. legt natürlich Wert darauf, die Kirche mit dem starken seelischen Einfluß ihrer Feiern und ihrer Pfarrerschaft zu Agitationszwecken zu benutzen ‑, so soll doch nicht verkannt werden, daß viele nationalsozialistische Pfarrer nur deshalb parteipolitisch tätig sein wollen, um „die politische Bewegung zu christianisieren“. Sie wollen „den Durchbruch zur letzten Glaubenstiefe herbeiführen helfen“ und bemühen sich deshalb, die heidnischen Symbole christlich auszudeuten. Das geht aus der Debatte im Deutschen Pfarrerblatt, die von Ende 1930 bis Mitte 1931 über „Christentum und Nationalsozialismus“ geführt wurde, deutlich hervor. Man weist auf das Versagen der Kirche gegenüber der marxistischen Bewegung im vergangenen Jahrhundert hin und will gerade durch politische Mitarbeit in Stahlhelm und NSDAP missionarisch wirken. Hierfür entwickelte bei der Tagung des „Gesamtverbands für Innere Mission“ (!) in Karlsruhe im Mai 1931 Pfarrer Willm (Potsdam) das Programm der „christlich deutschen Bewegung“, wonach in die politischen Rechtsparteien Kampfgruppen von Pfarrern und Laien eingebaut werden müssen, welche an der politischen Bewegung und an den politisch tätigen Pfarrern bewußt missionarische Dienste leisten („Neue Wege der Volksmission“[!]). Weit mehr scheint aber jene Tendenz zu überwiegen: die politische und die religiöse Sphäre vollkommen voneinander zu trennen. Es ist typisch, daß man sich dabei auf Luther beruft, welcher „säuberlich zwischen Staat und Gottesreich geschieden habe“ (Pfarrer Schmitt (Nünschweiler‑Pfalz) bei einer Pfarrfreizeit über Kirche und politische Parteien, Pfingsten 1931). In beiden Gebieten herrschten vollkommen unterschiedliche Gesetzmäßigkeiten, man dürfe Christentum und Politik nicht miteinander vermischen. So gewinnt man die Freiheit für Staatsabsolutismus, Imperialismus, Terror, Rassenhaß usw. für die politische Sphäre und „rettet“ die „Gnadenmacht des Christentums“ für die rein persönliche Sphäre des einzelnen Menschen.

„Hitler arbeitet darin ganz aus dem Geist Luthers, daß er sich gegen die Suprematie des Religiösen über den Staat wendet, denn nach Luther gibt es nur eine christliche Bevölkerung im Staat, aber keinen christlichen Staat“ (Pfarrer Schmitt, s. o.).

Es wird auf der einen Seite gegen den Vorwurf der Rassenvergötzung entschieden Stellung genommen und gegen Dinter und ähnliche Verkündiger einer Germanischen Religion gekämpft, ja es werden religiöse Betrachtungen in nationalsozialistischen Tageszeitungen ganz unpolitisch, abstrakt religiös, dogmatisch orthodox abgefaßt ‑ und es wird auf der andern Seite alles Denken und geistig‑seelische Leben auf das „Blut“ zurückgeführt, gegen das A. T. und Paulus gekämpft, Karl Marx einfach deswegen verfemt, weil er Jude war, und in religiösen Betrachtungen eine Übersteigerung jenes aus der Kriegs‑ und Vorkriegszeit genügend bekannten national‑idealistischen deutsch‑evangelischen Bindestrichristentums dargeboten. So wenig, wie auf kirchenpolitischem Gebiet eine Klarheit darüber existiert, ob man überall eine eigene Kirchenpartei, die „Deutschkirche“, aufmachen will, oder ob man in den alten Gruppen, hauptsächlich in der positiven, verbleibt, so wenig besteht eine theologisch‑ideologische Klarheit. Gerade die von uns religiösen Sozialisten eingeleiteten Disputationen werden zur Klarheit führen müssen. Wir haben zu beweisen, daß die Bejahung der nationalsozialistischen Bewegung dazu führen muß, daß die faschistische Ideologie das Evangelium umprägt und verfälscht, und daß es um der Wahrheit willen zu der Entscheidung kommen muß: Christuskreuz oder Hakenkreuz! Wir werden das tun trotz der Mahnung von D. Wahl, dem Schriftleiter des „Deutschen Pfarrerblatts“, der den religiösen Sozialisten zuruft: „Verdirb es nicht, es ist ein Segen drin.“

Wenn wir die Wahrheitsfrage stellen, bedienen wir uns der marxistischen Methode der „materialistisch‑dialektischen Geschichtsbetrachtung“ zur Analyse der nationalsozialistischen Bewegung und zur Klarstellung der Funktion, welche sie ‑ mit oder ohne den Willen der einzelnen Funktionäre und Mitglieder ‑ in der heutigen politischen und wirtschaftlichen Situation zu erfüllen hat. Sie ist eine Bewegung des Bauern‑ und Bürgertums, die in der Weltwirtschaftskrise des Hochkapitalismus, die in Deutschland verstärkt ist durch die Reparationslasten, ausbrach, weil diese Schichten (Bauern, Kleingewerbetreibende, Angestellte, Beamte, Rentner, Intellektuelle) sich wehren gegen einen doppelten Feind: gegen die drohende Proletarisierung als ihr unvermeidliches Schicksal und gegen die Weltplutokratie als die vermeintliche Urheberin dieser Not. Die noch wachsenden Millionenmassen konnten deswegen durch die überaus geschickte Propaganda der NSDAP. und ihre skrupellose Demagogie gewonnen werden, weil sie stimmungsmäßig antikapitalistisch sind. Sie wollen keinen Sozialismus, keine genossenschaftliche oder verstaatlichte Planwirtschaft.

„Wir stehen grundsätzlich auf dem Boden des Privateigentums... Sie haben gar keinen Grund, uns sozialistische Tendenzen zu unterschieben...“ (Gottfried Feder, der von Hitler besonders bevollmächtigte Programmatiker der NSDAP, im Reichstag 4.12.30).

Sondern auf allen Gebieten der Wirtschaft sollen die Gesetze des freien Marktes und die ungebundene Führerinitiative in der Industrie entscheiden, also das System des liberalen Frühkapitalismus gelten.

Nur an einem Punkt, dem des Geldwesens, will man eine Art „Staatssozialismus“ errichten. Um Deutschland aus seiner Abhängigkeit von der Weltwirtschaft möglichst zu befreien, erstrebt man ein autarkes Weltwirtschaftsimperium mit großem Kolonialbesitz und Raumvermehrung nach dem Osten Europas hin. Der Rassegedanke muß zum beherrschenden ideologischen Überbau dieser erstrebten Nationalwirtschaft werden: positiv im Rassedünkel, weil die bevorzugte arisch­germanische Rasse ein absolutes Recht auf Weltherrschaft und Unterdrückung der minderwertigen Rassen hat (z.B. gegenüber Slawen und Ungarn), ‑ negativ im Antisemitismus, weil der Jude als alleiniger Inhaber des „raffenden Kapitals“ nur entrechtet zu werden brauche, damit dann das „schaffende Kapital“ sich ungehemmt zum Segen aller produktiv tätigen Menschen auswirken könne. Diese Wandlung der wirtschaftlichen Verhältnisse zu schaffen, ist Aufgabe des absoluten und wehrhaften Staats. Er diktiert dem Wirtschaftsleben, hält alle revolutionären Bewegungen des „Untermenschentums“ (Proletariats) nieder und stützt sich

„auf eine Auswahl der neuen Herrenschicht, die nicht von irgendeiner Mitleidsmoral getrieben wird, sondern die sich darüber klar ist, daß sie auf Grund ihrer besseren Rasse das Recht hat, zu herrschen, und die diese Herrschaft über die breite Masse rücksichtslos aufrecht erhält und sichert“ (Hitler am 1.7.30 zu Dr. Otto Strasser).

Dieser Staat hat nach dem Vorbild des faschistischen Italien (Mussolini bekennt sich selbst zur hegelianischen Auffassung des Staatsabsolutismus) das alleinige Recht auf die Kinder‑ und Jugenderziehung (daher dessen Konflikt mit dem Papst), militarisiert die junge Generation von früh auf und sieht in der Kriegerkaste, im Kriegsheldentum die Blüte der Nation (vgl. Rosenbergs Staatsorganisation im „Mythus des 20. Jahrhunderts“). Von diesem Ideal des kriegerischen Heroismus aus wird die gesamte soziale und individuelle Ethik bestimmt. Der diktatorische Militärstaat, der prinzipiell jeder Demokratie abgeneigt ist, konstituiert das System der wirtschaftlichen „Korporationen“. Über diesen Staat sagt nach einer eingehenden historischen und juristischen Analyse Hermann Heller in seinem Buch „Europa und der Faschismus“ (Berlin 1929), S. 123:

„erst dadurch, daß der Faschismus neben der militärischen Macht, der Miliz und der politischen Herrschaftsorganisation der Partei auch noch über die ökonomischen Interessenverbände der Massen (Arbeitersyndikate) verfügt, gelingt es ihm, sich an der Macht zu erhalten.... Alles in allem kann der Faschismus durchaus nicht als eine neue Staatsform gelten, sondern als die der kapitalistischen Gesellschaft entsprechende Form der Diktatur“.

Vergleicht man hiermit das Buch des Syndikus des Reichsverbands der deutschen Industrie, Hans Röpke: „Der Nationalsozialismus und die Wirtschaft“ (Verlag Elsner, Berlin), so findet man für die NSDAP. die Bestätigung, daß auch in Deutschland die Zielsetzung dieselbe ist: der kleinbürgerliche Antikapitalismus ist revidiert, Abschaffung des arbeitslosen Einkommens, Verstaatlichung aller bereits vergesellschafteten Betriebe, Gewinnbeteiligung an Großbetrieben usw. stehen nur noch auf dem Papier:

„Es ist gar kein Zweifel, daß die antikapitalistische Parole des Nationalsozialismus, die heute in eine antimaterialistische veredelt worden ist, ursprünglich eine viel zu mechanische war. Die diesbezügliche programmatische Forderung, die später einbezogen wurde in die Brechung der Zinsknechtschaft, lautete: Abschaffung des arbeits‑ und mühelosen Einkommens. Das bedeutet klipp und klar Abschaffung von Rente und Profit. Hier stand schon das schwere Geschütz, mit dem Marx die Position des Kapitalismus beschossen hatte, und wir brauchen uns darüber keiner Täuschung hinzugeben, daß die Forderung heute noch große Popularität besitzt“ (S. 30/31).

Es ist nur ein Zeichen für die dauernd in Programm und Praxis der NSDAP festzustellende „Tarnung“, wenn Röpkes Deutungen jetzt als nicht parteioffiziell abgeschüttelt werden. Sie begründen zu gut, warum Hugenberg und die Schwerindustrie in der national“sozialistischen“ „Arbeiter“partei einen so willkommenen Bundesgenossen erblicken. Man tarnt die Widersprüche im Programm mit angeblichem „Antimammonismus“. „Marxismus und Kapitalismus sind beide materialistisch und mammonistisch; der Nationalsozialismus ist antimammonistisch und idealistisch!“ Die Auguren wissen, daß mit der Parole „Antimammonismus“ innerhalb der Systematik des Kapitalismus zur Vernebelung der Gehirne Camouflage des wahren Sachverhalts getrieben wird. Und sie lächeln über ihren Erfolg, daß alle diese schicksalsmäßig antikapitalistischen Massen nun mit glühender Begeisterung militant geworden sind, durch ihre militärischen Formationen die Macht im Staat zu erobern sich anschicken, welche dann von diesen an der Stabilisierung des Kapitalismus interessierten Herren allein in ihrem eigenen Interesse, gegen jene frühkapitalistischen Romantismen und gegen die Sozialpolitik der bisherigen Republik verwandt werden soll; denn deshalb proklamiert man die „Krise der Demokratie“, weil durch demokratische Mitbestimmung bei der staatlichen Gesetzgebung der Kapitalismus immer mehr entmächtigt wurde. So spielt der Begriff „Antimammonismus“ bei den Nationalsozialisten eine ähnlich verhängnisvolle Rolle wie in der Ideologie jener konservativen christlichen Sozialtheoretiker um den „kirchlich‑sozialen Bund“, welche den Kapitalismus als System bejahen, aber ihm ein soziales Gewissen einsetzen wollen, was nur in jener Fabel Meyrinks von dem „Löwen Alois“ gelingt, der in einer Schafherde erzogen, schließlich zum braven Schaf geworden ist.

In unsern Diskussionen und Kämpfen mit dem Nationalsozialismus spielen diese wirtschafts­theoretischen Fragen eine entscheidende Rolle. Ausführlicher, als es hier dargestellt werden kann, arbeiten wir aus der nationalsozialistischen Theorie und Praxis mit genauer Kenntnis des Materials und durch Vergleiche mit dem italienischen Faschismus den kapitalistischen Charakter dieser „sozialistischen“ Bewegung heraus. Jener Gefühlsnationalismus und Gefühlssozialismus unsrer nationalsozialistischen Amtsbrüder kann einer solchen scharfen Analyse nicht standhalten. So wenig wie die andern durchschnittlichen politischen Führer der NSDAP. Dann müssen eben die fehlenden geistigen Verteidigungswaffen ersetzt werden durch Provokation von Tumulten, und die „geistig unbelasteten“ SA‑Leute führen mit Brachialgewalt die Diskussion weiter. Eckert, Kleinschmidt und ich haben schon solche Erlebnisse gehabt.

Und wie in der Wirtschaftstheorie, so muß vor allem auch bezüglich der Stellung zum Krieg und zur Außenpolitik das gewissenlose Spiel mit Romantismen durch unerbittlichen Realismus niedergezwungen werden. Auch wir waren Kriegsfreiwillige und Frontoffiziere; heute gehören wir zu den vielgeschmähten Pazifisten. Das hat seinen Grund darin, daß wir das tiefste Fronterlebnis darin fanden, daß im letzten Weltkrieg der Krieg an sich selber ad absurdum geführt worden ist und daß ein Sinn für das Sterben von zehn Millionen Menschen nur darin gefunden werden kann ,daß aus dieser Saat die Ernte eines wirklichen Völkerbunds und Völkerrechts, einer Weltabrüstung, eines Zusammenarbeitens der Völker hervorgeht. Das typische Beispiel für einen solchen romantischen Imperialisten bildet der Reichstagsabgeordnete Pfarrer Teutsch, der im Juli 1931 (während der Verhandlungen über das Reparationsfeierjahr) in einer großen Festhalleversammlung in Karlsruhe, in welcher er seinen Austritt aus dem „Christlichen Volksdienst“ und den Eintritt in die NSDAP. begründete, die fulminanten Sätze über begeisterte Tausende hinschleuderte:

„Wir Deutsche sind nicht auf der Welt, um auf uns herumtrampeln zu lassen. ‑ Wenn die andern nicht abrüsten, dann werden wir eben aufrüsten. Das muß jedem ganz klar sein, der sein Volk liebt hat! ‑ Wir sind in diesem Sinne national, weil die ganze Heilige Schrift uns das vorschreibt.“

So sind es gerade die nationalsozialistischen Pfarrer, welche mit einer verdächtigen Leidenschaft immer wieder behaupten, daß das Evangelium mit Abrüstung und Abschaffung des Kriegs nichts zu tun habe. Unaufgelöst bleibt der Widerspruch, daß nach dem 14.9.30 Adolf Hitler in seiner Auseinandersetzung mit Gustave Hervé und die Reichstagsfraktion in ihrer Stellungnahme zum kommunistischen Antrag auf Einstellung der Reparationen den „privatrechtlichen Charakter der Schuldverpflichtungen“ anerkannten, aber nach außen hin in der gewissenlosesten Weise gegen die „marxistische Erfüllungspolitik“ hetzen.

Ist es nicht eine der Öffentlichkeitsaufgaben der Kirche, um der Wahrheit willen sich gegen diese unerträgliche Unwahrhaftigkeit der NSDAP. zu wenden? Soweit ich sehe, ist dies von den bürgerlichen Kirchenführern noch nie versucht worden. Man wendet sich in allgemeiner Form gegen die Anwendung von Gewalt und Terror im politischen Kampf (z. B. in der Thüringer Entschließung gegen die Verwilderung des öffentlichen Meinungskampfes). Aber, gehört nicht gerade das auch zur Funktion der „Kirche als Weckerin des öffentlichen Gewissens“, daß die Kirchenführer, die doch durch wissenschaftlich gebildete Spezialisten in den kirchlichen Sozialämtern und durch das Tatsachenmaterial des internationalen Instituts in Genf genügend über die Wirklichkeit der Wirtschaft orientiert sein sollten, sich gegen diesen gefährlichen Romantismus wenden? Liegt hier nicht eine viel gefährlichere Versündigung gegen den Geist der Wahrheit vor, zumal wenn der Romantismus aus Machtinteressen künstlich genährt wird, als in aller atheistischen Propaganda der Gottlosenverbände?

Auch in der sehr klugen Erklärung des mecklenburgischen Landesbischofs D. Dr. Rendtorff wird diese Aufgabe der Kirche gar nicht gesehen:

„Die Kirche würdigt die nationalsozialistische Bewegung, warnt vor Vergötzung von Volk und Rasse, mahnt, daß die soziale Forderung des Brudergedankens bis zur Tiefe durchgeführt wird, wo sie zum Angriff auf die innerste Haltung des Menschen wird, und begrüßt schließlich in der nationalsozialistischen Bewegung dankbar das große Wollen.“

Man muß eben bedenken, welche Hoffnungen der „deutsch‑evangelische Protestantismus“ auf die Machtergreifung der Nationalsozialisten für die Wiedergewinnung protestantischer Vormacht in Deutschland setzt. Uns religiösen Sozialisten scheint dieser „deutsch‑evangelische Protestantismus“ um das Linsengericht äußerer Macht willen das geistige Erstgeburtsrecht zu verkaufen. Er wird in einer nationalsozialistischen Diktatur noch rettungsloser als die alte evangelische Staatskirche in die Abhängigkeit vom absoluten Staat kommen. Sein Versuch, einen Rückversicherungsvertrag auf Gegenseitigkeit mit dem Faschismus zu schließen, wird dazu führen, daß nach einer etwaigen Epoche nationalsozialistischer Diktatur bei dem notwendig kommenden sozialistisch‑kommunistischen Gegenstoß nur ein unabwendbares russisches Schicksal die deutschen evangelischen Kirchen treffen muß! Von einem nationalsozialistisch umgeprägten Christentum ist in eine sozialistische Gesellschaft schlechterdings keine Brücke zu schlagen! Die Kontinuität kirchlicher Entwicklung ist dann im Protestantismus abgebrochen. Ganz neu, so arm und so reich wie zu der Apostel Zeiten, muß dann Christi Botschaft vom Reich Gottes in der Sprache und Form jener kommenden sozialistischen Ordnung verkündigt werden, nachdem das Blut vieler unschuldiger Märtyrer über die gekommen ist, welche heute in dieser weltgeschichtlichen Auseinandersetzung zwischen Faschismus und Sozialismus nicht erkennen wollen, was der von ihnen geführten Kirche Christi zum Frieden dient.

„Es kommt uns manchmal vor, als ob die heutigen verantwortlichen Führer der Kirche von einer furchtbaren Macht direkt verstockt gemacht worden sind, daß sie nicht sehen können, was ihre Aufgabe ist“ (Eckert in seiner Rede vor dem Dienstgericht am 12.6.31).

Man begreife doch einmal in den kirchlichen Kreisen, die gegen uns religiöse Sozialisten für den Nationalsozialismus Stellung nehmen, daß wir nicht als Parteileute der SPD., sondern als evangelische Christen und Theologen mit solcher Schärfe unsre warnende Stimme erheben, weil wir den Gesichten einer dunkeln Zukunft, einer großen Not für die evangelische Kirche nicht wehren können, die uns bedrängen. Und unsre Ahnungen werden Wirklichkeit werden müssen, wenn man unsre Stimmen nicht hört!

Das offizielle nationalsozialistische „Christentum“, welches jenen wirtschaftlichen und politischen Ideologien entspricht, diesen „religiösen Überbau“ über jene faschistischen, kapitalistischen und imperialistischen Aspirationen lernt man heute nicht so sehr kennen bei den zitierten harmlosen nationalsozialistischen Theologen, sondern man findet es bei den nationalsozialistischen Politikern. Dort erfährt man, was für einen Inhalt das positive Christentum hat, auf dessen Boden nach Punkt 24 des Programmes die NSDAP. steht.

„Positiv wird unsre Einstellung zum Christentum vielleicht am besten umschrieben durch die von Minister Dr. Frick empfohlenen Schulgebete“ (Das Programm der NSDAP. S. 17f.). Z.B.:

„Vater, in deiner allmächtigen Hand
Steht unser Volk und Vaterland.
Du warst der Ahnen Stärke und Ehr,
Bist unsre ständige Waffe und Wehr.
Drum mach uns frei von Betrug und Verrat,
Mach uns stark zu befreiender Tat,
Gib uns des Heilands heldischen Mut,
Ehre und Freiheit sei höchstes Gut.
Unser Gelübde und Losung stets sei:
Deutschland erwache! Herr, mach uns frei!“

Dies hier von Politikern offiziell gemachte Glaubensbekenntnis paßt doch herrlich zu jenem deutsch‑evangelischen Christentum, über welches Karl Barth in seiner Rede „Die Not der evangelischen Kirche“ („Zwischen den Zeiten“ 1931, Heft 2, S. 115) schreibt:

„Was soll man davon denken, daß die Assoziation und der Bindestrich zwischen Christentum und Volkstum, evangelisch und deutsch, nachgerade in der Weise in den eisernen Bestand der mündlichen und gedruckten Rede unsrer Kirche aufgenommen worden ist, daß man sagen muß: das, dieser Bindestrich, ist heute das eigentliche Kriterium der kirchlichen Orthodoxie geworden.... Wehe dem, der hier, in Sachen dieses in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfundenen Bindestrichs, von der allgemeinen Linie abweicht.... Wäre es nicht besser..., überhaupt vieles nicht zu tun, wenn es ohne diese unmögliche Rolle Jesu Christi neben den vaterländischen Gefühlen dabei nicht abgehen kann? Meint man denn auch nur dem Vaterland durch solche Kombinationen einen Dienst zu tun? Meint man wirklich, es gebe irgendeine nationale Not und Hoffnung, die die Kirche berechtigt, in dieser Weise fremdes Feuer auf den Altar zu bringen? Sollte nicht schließlich auch und gerade einem ernsthaft nationalen Denken die Erwägung möglich und notwendig sein, daß das, was das deutsche Volk heute nötig hat, die Existenz einer evangelischen und gerade nicht einer deutsch­evangelischen Kirche ist?“

Sicherlich befindet sich Gottfried Feder im Programm S. 62 auf der Linie der Kontinuität deutsch­evangelischen Christentums, wenn er orakelt:

„Alle Fragen, Hoffnungen und Wünsche, ob das deutsche Volk dereinst einmal eine neue Form finden wird für seine Gotteskenntnis und sein Gottesleben, gehören nicht hierher, das sind Dinge von säkularer Bedeutung, die auch über den Rahmen eines so grundstürzenden Programms, wie es der Nationalsozialismus verkündet, weit hinausgehen.“

Interessant ist die Koordinierung der Religion mit den drei andern Grundprinzipien nationalsozialistischer Erziehung in folgendem Zitat aus der nationalsozialistischen Lehrerzeitung:

„Wir erblickten in den Begriffen Rasse, Wehr, Führer und Religion die Elemente eines gesunden organischen Volkswachstums und die Grundlagen, die ein Volk auf die Höhen der Menschheit führen; sie müssen auch die Fundamente der Erziehung sein.“

Adolf Hitlers persönliche Stellungnahme zum Religionsproblem habe ich schon oben berührt. In „Mein Kampf I“ streift er es an verschiedenen Stellen, z. B. S. 121 und 382. Er wehrt jene Wodanskultschwärmer strikte ab und bekennt sich zu einem positiven, in fester kirchlicher und dogmatischer Form vor Verflüchtigung geschützten Christentum. Wer von Hitler nach jenen Apotheosen, die ihn als „gottgesandt“ verherrlichen und mit Christus vergleichen, ein lebendiges, persönliches, religiöses Bekenntnis erwartet haben sollte, muß sehr enttäuscht werden. Aber man lernt bei ihm verstehen, welchen Sinn im Erziehungsprogramm jene Koordination der Religion hat. ‑ Die Religion, das „positive Christentum“ hat den Wert des stärksten autoritären Erziehungsfaktors im Staat; sie muß deshalb dem Volk erhalten bleiben.

„Der Angriff gegen die Dogmen an sich gleicht sehr stark dem Kampf gegen die allgemeinen gesetzlichen Grundlagen des Staates, und so wie dieser sein Ende in einer vollständigen staatlichen Anarchie finden würde, so der andre in einem wertlosen religiösen Nihilismus.“

Es würde also zweifellos die Staatsmacht im Dritten Reich auch bei Ketzergerichten zur Verfügung stehen und einer kirchlichen Bannbulle die staatliche Achterklärung folgen lassen! Insofern ist allerdings ein gewisser Parallelismus mit Luther, der die Hinrichtung von Schwarmgeistern durch die staatliche Obrigkeit forderte.

Will man also ‑ und darauf kommt es an ‑ den Begriff „positives Christentum“ klären, dann gehe man nicht zu einem nationalsozialistischen Pfarrer theologisch positiver Richtung. Dort wird mit den Begriffen gespielt, wofür vielleicht folgender Nachruf des Vertreters des nationalsozialistischen badischen Pfarrerbunds am Grab eines Demonstrationsopfers charakteristisch ist (Pfarrer Kramer (Meißenheim) in Lahr am 29.5.31):

„Mit tiefbewegtem Herzen stehe ich hier, um des teuren Opfers unsrer Bewegung liebend und trauernd zu gedenken. Angesichts des furchtbaren Geschehens rufe ich über das offene Grab des treuen und furchtlosen Kämpfers das Wort des Glaubens und der Hoffnung:“Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?“ Die Sache der NSDAP. ist bis zur Stunde noch eine Sache des Glaubens und der Hoffnung. Und es müssen Opfer um Opfer dafür gebracht werden.... Als Christen liegt uns der Opfergedanke überhaupt nicht ferne. Vom Boden des positiven Christentums aus, auf den unsre Bewegung bewußt sich stellt, sehen wir auf zu dem größten und heiligsten Opfer, das auf dieser Welt geschah am Kreuz auf Golgatha.... Und wir meinen, das ist nicht unterchristlicher Geist oder neues Heidentum, wie man von unsrer Bewegung so oft und gern zu sagen pflegt, sondern das ist heiße Liebe zum Vaterland und gläubiges Hoffen auf den geoffenbarten Christengott....“

Der Begriff „positives Christentum“ wird ganz eindeutig bestimmt in Alfred Rosenbergs grundlegendem Werk „Der Mythos (sic!) des zwanzigsten Jahrhunderts“ (München 1930). Dort ist ihm das „negative Christentum“ gegenübergestellt. Dies ist die Bastardisierung des Christentums dadurch, daß seine Verkünder ihr arisches Blut, dessen Träger auch Jesus war, nicht rein erhalten, sondern sich mit asiatisch‑syrischem (jüdischem) in Asien, etruskisch‑pelasgischem in Italien, sonstigem niederrassischem in den germanischen Ländern vermischt haben. „Negativ“ sind der ganze alttestamentliche Prophetismus, die Messiasidee des N. T., Kreuz und Auferstehung des Christus, die Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben, von der Sündenerlösung durch Gnade, alle christlichen Liebesforderungen, alle Geltung der Demut, der allgemeinen Menschenliebe. Vor allem der Jude Paulus ist verantwortlich für dies negative Christentum; der Papst ist der Medizinmann, der mit der Magie der Sakramente, mit erfundenen Dogmen die allzu menschlichen Ängste und hysterischen Anlagen züchtete, alle freien und starken Charaktere mit der Inquisition zerbrach und schließlich durch den Jesuitismus dieser Medizinmannphilosophie im Vatikanischen Konzil den Schlußstein durch die Unfehlbarkeitserklärung schaffen ließ. Luther findet aber ebensowenig Anerkennung, denn er hat das A. T. und den Paulinismus anerkannt, er konnte von freier Vernunft nicht mehr reden, sondern pochte auf den Buchstaben. ‑ Dieses negative Christentum findet seine Gipfelung in dem Begriff der Caritas, des „kirchlich-christlichen Mitleids“:

„Aus dem Zwangsglaubenssatz der schrankenlosen Liebe und der Gleichheit alles Menschlichen vor Gott einerseits, der Lehre vom demokratischen, rasselosen und von keinem national‑verwurzelten Ehrgedanken getragenen „Menschenrecht“ andererseits hat sich die europäische Gesellschaft geradezu als Hüterin des Minderwertigen, Kranken, Verkrüppelten, Verbrecherischen und Verfaulten „entwickelt“. Die „Liebe“ plus „Humanität“ ist zu einer, alle Lebensgebote und Lebensformen eines Volkes und Staates zersetzenden Lehre geworden....“ (S. 163). ‑ „Die Religion Jesu war zweifellos die Predigt der Liebe. Alle Religiosität ist tatsächlich auch vornehmlich eine seelische Erregung, die der Liebe zum mindesten immer nahe verwandt sein wird. Niemand wird dies Gefühl mißachten; es schafft das seelische Fluidum von Mensch zu Mensch. Aber eine deutsch‑religiöse Bewegung, die sich zu einer Volkskirche entwickeln möchte, wird erklären müssen, daß das Ideal der Nächstenliebe der Idee der Nationalehre unbedingt zu unterstellen ist; daß keine Tat von einer deutschen Kirche gutgeheißen werden darf, welche nicht in erster Linie der Sicherung des Volkstums dient“ (S. 570).

Darum gilt als positives Christentum alles Heidnische und Ehrenhafte! Der Mensch steht nicht demütig vor Gott, sondern er hat Gott in sich, er ist gottähnlich, ja Gott gleich! Darum wird Meister Ekkehart von Rosenberg als der „Apostel der Deutschen“ proklamiert, dessen „Gott in der Seele“ und „Himmelreich in uns“ dem genuinen Jesus am meisten entsprochen haben soll:

„Sich dem Bösen nicht zu widersetzen, die linke Backe hinzuhalten, wenn die rechte geschlagen wird usw., sind feministische Zuspitzungen..., umfälschende Zusätze anderer Menschen. Jesu ganzes Dasein war ein feuriges Sich‑Widersetzen. Dafür mußte er sterben“ (S. 569).... „Aus dem Schutt (des heutigen Kulturzusammenbruchs) erheben sich heute Mächte, die begraben schienen, und ergreifen immer bewußter Besitz von allen, die um ein neues Lebens‑ und Zeitgefühl ringen. Die nordische Seele beginnt von ihrem Zentrum ‑ dem Ehrbewußtsein ‑ heraus wieder zu wirken. Und sie wirkt geheimnisvoll, ähnlich wie zu der Zeit, als sie Odin schuf, als einst Otto des Großen Hand spürbar wurde, als sie Meister Ekkehart gebar, als Bach in Tönen dichtete und Friedrich der Einzige über die Erde schritt. Eine neue Zeit deutscher Mystik ist angebrochen, der Mythus des Blutes und der Mythus der freien Seele erwachen zu neuem bewußtem Leben“ (S. 204).

Im Zentrum des nationalsozialistischen Denkens über Religion steht also der nordische heldische Mensch, dessen sittliche Grundbegriffe Ehre, Freiheit, Pflicht aus der Seele seiner Rasse emporsteigen und den deutschen Gott schaffen.

„Mit dieser Erkenntnis, daß Europa in allen seinen Erzeugnissen schöpferisch gemacht worden ist allein vom Charakter, ist das Thema sowohl der europäischen Religion als auch der germanischen Wissenschaft, aber auch der nordischen Kunst aufgedeckt. Sich dieser Tatsache innerlich bewußt zu werden, sie mit der ganzen Glut eines heroischen Herzens zu erleben, heißt die Voraussetzung jeglicher Wiedergeburt schaffen“ (S. 112).

Die kirchlich‑positiven Theologen sollten wohl bei so viel Widersprüchen gegen ihr positives Dogma einige Zweifel darüber verspüren, ob ihr Begriff von positivem Christentum mit dem der Nationalsozialisten sich deckt. Man beachte bei all den Ausreden, Rosenbergs Buch sei eine Privatarbeit, daß er der Hauptschriftleiter des „Völkischen Beobachters“ ist und wirklich konsequent auf den oben dargestellten wirtschaftlichen und politischen Fundamenten den Tempel nationalsozialistischer Religion aufgebaut hat. Das ist die gleichzeitig mystische wie rationalistische Herrenreligion des nordischen Aristokraten und Welteroberers, der sich seinen Gott selbst schafft. Hitler müßte, um einen Ausgleich zwischen Rosenberg und seiner Religionsansicht zu schaffen, nun eigentlich eine zwiefache Religion im Dritten Reich statuieren: eine dogmenlose für die Führer (Rosenberg lehnt alle Dogmen und Wunder ab) und eine dogmengebundene für die breite Masse! ‑ Bei Rosenberg liegt über dem Verhältnis von Blut und Geist das Dunkel der Mystik. Kleinere Geister als er sinken gerade in den blanken Materialismus zurück, den sie bei den „Marxisten“ so hochmütig bekämpfen. Ein Beispiel dafür ist das Buch „Jesus der Arier ‑ ein Heldenleben“ von Hans Hauptmann (Deutscher Volksverlag Dr. E. Boepple, München):

„Jesus war Arier, nordischer Mensch... tiefer und heißer durchglüht als alle vom arischen Gottwissen, vom Heldengeiste arischen Blutes. Eine Kampfnatur... Ihm ist es zur Gewißheit geworden, daß allein der arische Mensch gottgeschaffen nach dem Ebenbild des Vaters sei, allein der berechtigte Herr der Erde nach dem Willen des Schöpfers!... Mit der Sünde wider den Heiligen Geist, die nicht vergeben werden kann, kann Jesus keine andre als diese Blutsünde gemeint haben: die fluchtbeladene Selbsterniedrigung der Hochrasse durch die Vermischung mit Niederrassigen...“ (S. 6, 7).

Ohne alle „Wunder“ wird ein romantisch‑kitschiges Lebensbild Jesu gegeben, von welchem noch ein Stück aus der Bergpredigt zitiert sein mag, welches die Überschrift trägt: „Der Hochtag“ (S. 107 ff.):

„Fünfzig essäische Jünglinge gingen auf dem Weg zur Schule vor Jesu und seinen Jüngern her, fünfzig folgten ihnen. Ihnen zu Ehren hatte Jesus die weiße Stirnbinde mit dem goldenen Hakenkreuz und ein weißes Linnenkleid angelegt....

So bin ich denn müde geworden, in Gleichnissen zu euch zu reden, und will euch fortan rütteln mit rauher Hand. Ich habe zu euch gesagt: Meinet ihr, daß ich gekommen sei, Frieden zu bringen auf Erden? Ich sage: Nein! sondern Zwietracht! Und ein andermal: Wähnet nicht, daß ich den Frieden zu bringen gekommen sei, sondern das Schwert! Und ich habe ein drittes Mal zu euch gesprochen: Ich bin gekommen, daß ich ein Feuer anzünde auf Erden; was wollte ich lieber, denn es brennete schon!

Die Zwietracht, von der ich sagte, bedeutet, daß die Gottessöhne, wo immer sie wohnen, einen Wall um sich aufwerfen müssen gegen die Niederrassigen und Mischlinge, die Kinder des Teufels! Das Schwert, von dem ich sagte, bedeutet, daß die Gottessöhne nur zur Vernichtung der Niederrassigen und Mischlinge, der Kinder des Teufels, über diesen Wall herausbrechen dürfen! Das Feuer, von dem ich sagte, ist der Tag des Gerichts, der leuchten wird und muß über dem Sieg der Gottessöhne und über dem Untergang der Niederrassigen und Mischlinge, der Kinder des Teufels! Wahrlich, ich rate euch: tut an das Kleid der Keuschheit, damit ihr euch auf die artreine Liebe zu edelgeborenen Frauen unseres Stammes beschränket!“

Difficile est, satyram non scribere, wenn man die Ausdeutung des Unser‑Vater‑Gebets, des Abendmahls, der Abschiedsreden, des Todes Jesu aus dem Geist dieser arischen Blutreligion liest! ‑ Ist dies nun das positive Christentum der Nationalsozialisten?

Da ist doch jener Aufsatz „Der Faschismus als Wille zur Weltherrschaft und das Christentum“ von J. Evola in „Critica Fascistica“ Rom vom 15.12.27 weit ehrlicher, der in der „Eiche“ II, 1928 abgedruckt ist: Er lehnt das Christentum als Grundlage des faschistischen Staates glatt ab! Zwar mußte angesichts der damaligen Verhandlungen zwischen Mussolini und dem Vatikan die Critica Fascistica in der nächsten Nummer von dem Verfasser abrücken und erklären, der Artikel sei eine einzige Ketzerei; aber sicherlich ist die Tatsache, daß jener Artikel gerade die Wahrheit über das Wesen der faschistischen Staatsreligion enthält, bedeutsam, damit der Nichtitaliener verstehen kann, warum es trotz jenem Konkordat, das den Katholizismus zur Staatsreligion erklärte, zu immer neuen Spannungen zwischen Papst und Mussolini kommen mußte.

„Das Christentum ist in der Tat der tiefste Grund aller jener heutigen Formen sozialer Degeneration, gegen die der Faschismus sich als Gegenbewegung erhoben hat. Nein sagen zu einer kommunistischen, humanitären, gleichmachenden Ideologie heißt Nein sagen zu allem, worin man heutzutage den Geist des Urchristentums zusammenfassen kann. Hier hat der Faschismus nicht nötig zu wählen. Er hat schon gewählt.

Unser Gott kann nur der aristokratische Römer sein, der Gott der Patrizier, zu dem man stehend und erhobenen Hauptes betet und den man an der Spitze der siegreichen Legionen trägt, ‑ nicht der Schutzpatron der Verzweifelten und Betrübten, den man zu Füßen des Kruzifixes anfleht, in der vollständigen Auflösung der eigenen Seele.

Unser Ideal kann nicht der Gott‑Mensch sein, der Gott, der liebt und leidet, das gerechtfertigte Sühneopfer auf dem Schreckenshintergrund der Apokalypse, der Gehennas, der Prädestinationen ‑ sondern der siegreiche Mensch‑Gott, der Held der hellenischen Mythen, Mithras, der Besieger der Sonne und des 'Stiers', Siva, der schreckliche, tanzende Gott, die leuchtenden, mächtigen, kosmischen Wesen, gereinigt von Leidenschaft, erloschen für Sehnsucht und Gier, geweiht durch Mysterien.

So sagen wir, daß, wenn der Faschismus Wille zur Weltherrschaft ist, er, zur heidnischen Tradition und Geistigkeit zurückkehrend, wirklich er selber sein wird und dann wirklich in jener Seele brennen, die ihm heute noch fehlt und die kein christlicher Glaube ihm jemals geben kann.“

In einem solchen Bekenntnis ist die Mystik überwunden. Da ist dem Pfarrer auch wieder eine klare Aufgabe gestellt:

„Er muß der Rasse und dem Volkstum zu gesunder Entwicklung verhelfen. Er muß, sagt Ziegler, Kampfgeist und völkischen Willen besitzen, muß als Kanzelredner nationalen Instinkt und historischen Sinn wecken, insbesondere die germanische Vorzeit veranschaulichen. Je weniger er durch christliche Vorurteile wie Nächstenliebe, Friedfertigkeit, Demut gehemmt ist, desto besser ‑ muß man schließen ‑ ist er geeignet. Für die knechtischen jüdisch‑christlichen Werte blüht ihm reicher Ersatz in den völkischen, in systematischer vaterländischer Jugenderziehung“ (Friedrich Franz von Unruh in der „Frankfurter Zeitung“ vom 23.2.31).

Hat nach dieser Darstellung, die es sich versagt, auf alle die traurigen Erscheinungen des nationalsozialistischen Tageskampfes einzugehen, nicht jener Aufruf der religiös‑sozialistischen Internationale recht, wenn er sagt:

„Man darf sich nicht durch den christlichen Schein der Bewegung über ihren wahren Charakter täuschen lassen. Abgesehen davon, daß das christliche Bekenntnis in ihrem Munde zugestandenermaßen oft bloß wieder Demagogie ist, also schlimmster Mißbrauch des Heiligen zu fremden Zwecken, so liegt doch offen zutage, daß sie das Kreuz Christi unter der Hand in das Hakenkreuz verwandelt, also das Sinnbild der vergebenden und rettenden Liebe Gottes für alle in das Zeichen selbstgerechter und hochmütiger Ausschließlichkeit, ja sogar des Hasses und der Gewalt. Ist das nicht die schlimmste Lästerung des Kreuzes, die man sich denken kann?

Ihr Vertreter der Sache Christi: Solltet ihr das nicht sehen? Solltet ihr nicht die ungeheure Gefahr für die Sache Christi sehen, die in dieser Verwechslung liegt? Wenn der Gewaltgedanke, der mit diesem Götzendienst des Nationalismus aufs engste verbunden ist, mit einer noch nie dagewesenen Frechheit sein Credo in die Welt schreit, wer wäre so abgestumpft, um ihn nicht als frivole Gottlosigkeit zu empfinden? Und der zäsarische Despotismus, der den Staat zum Gotte macht, der nichts neben sich gelten läßt, der keine Regung des selbständigen Gewissens duldet und seine Gegner mit Gewalt und Mord unterdrückt, wie kann er neben dem Anspruch auf die Freiheit eines Christenmenschen, die das Palladium des Protestantismus, und neben dem Anspruch auf die Herrschaft Christi über alles Leben bestehen, die der Sinn des Katholizismus ist?“

Die religiös‑sozialistische Bewegung, die so das Gewissen der christlichen Kirchen zu einer klaren Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus aufruft, ist keine Bindestrichbewegung im Sinn meiner obigen Kritik am deutsch‑evangelischen Christentum! Sie hat nie Reich Gottes und Sozialismus verwechselt, sie trägt die Erkenntnis der dialektischen Theologie von der Autonomie Gottes in sich. Ihr Glaube ist auf Gott und sein Reich gerichtet. Gerade darum sieht sie mit Blumhardt den jetzigen Augenblick der schweren Erschütterung des Weltkapitalismus, des Versagens aller Gewalt‑ und Kriegsideologie, des Willens aller unterdrückten Klassen und Völker zu einer Ordnung des Friedens und der Gerechtigkeit ‑ als einen Augenblick an, wo im Weltgericht auch Welterlösung ‑ von Gott her! ‑ geschieht. Die frohe Botschaft vom Reich Gottes ergeht heute, nicht wie bei der Reformation des 16. Jahrhunderts zunächst an die Einzelseele, sondern an die großen Menschheitszusammenhänge, sie ist nicht mehr individuell, sondern kollektiv und gerade deshalb in viel eminenterem Sinn auch an die in ihrem Wert unermeßliche Einzelpersönlichkeit gerichtet. Wie ein Spuk, ja wie eine dämonische Personifizierung des Antichrists erscheint demgegenüber jenes arische Blutchristentum, dämonischer als der zynische Atheismus der Besboschniki! Im Kampf gegen diese Mächte glauben die religiösen Sozialisten die Aufgabe zu erfüllen, welche der Kirche Christi heute gestellt ist. Es mag dem herrschenden deutsch‑evangelischen Kirchentum als eine Anmaßung erscheinen, wenn die zahlenmäßig noch kleine religiös‑sozialistische Bewegung es für sich in Anspruch nimmt, daß sie allein die Sache Christi in der Kirche verteidigt. Die Entscheidung hat der Herr der Geschichte, Gott, in der Hand. Sein Urteil lautete regelmäßig anders als das der Kirchengerichte. Für die religiösen Sozialisten liegt die Situation etwa so: Rettet sich aus der jetzigen Kirche noch einmal die demokratische Republik, dann wird der Nationalsozialismus in gemäßigter Form die Ideologie einer breiten bürgerlichen Rechten werden und wird die evangelische Kirche als die festeste Säule seiner Ideologie beanspruchen; dann muß der Kampf der religiösen Sozialisten in der Kirche geführt werden. Geht die Republik unter, und erhebt sich gegen die Verzweiflungskämpfe des Proletariats die nationalsozialistische Diktatur, dann wird aus der hiervon abhängigen faschistischen Staatskirche das marxistische Proletariat entfliehen; die religiös‑sozialistische Bewegung wird dann in der Kirche durch die Maßnahmen der weltlich‑geistlichen Obrigkeit schnell erledigt sein und außerhalb der Kirche als eine der Form nach profanisierte Bewegung ohne Sektencharakter für die Sache Christi in der marxistischen Gesamtbewegung einzustehen haben. Erwächst ‑ was notwendig ist ‑ aus dem Kampf gegen die kapitalistische Reaktion die sozialistische Revolution, dann ist das Schicksal der „deutsch‑evangelischen“ Kirche besiegelt. Dann wird jener religiöse und kirchliche Neuanfang geschehen müssen wie im heutigen Rußland. Aber gleichzeitig wird auch in den andern Kontinenten der Erde die Umgestaltung der Produktionsverhältnisse nach dem Grundsatz der Gerechtigkeit sich durchsetzen, und damit wird jene neue Welt emporsteigen, in welcher das „ganze“ Evangelium Jesu vom Reich Gottes eher lebendig und eine christliche Kirche eher zum Gewissen der Welt werden kann als in der vom Nationalsozialismus heute noch einmal gestützten Welt des Kapitalismus und Imperialismus.

In: Friedrich-Martin Balzer/Gert Wendelborn: „Wir sind keine stummen Hunde“. Jesaja 56, 11. Heinz Kappes (1893-1988). Christ und Sozialist in der Weimarer Republik. Bonn 1994, S. 183-197

   
 
 

Ludwig Simon (1905-1995) Download als PDF
   
 

Religiös-sozialistische Predigt im Konzentrationslager Heuberg am 21. März 1933.

Die Umstände, unter denen der religiös-sozialistische Pfarrer Ludwig Simon (*1905) am 21. März 1933 seine Predigt im neueröffneten KZ auf dem Heuberg hielt, bedürfen der näheren Beschreibung, um die Dramatik der Situation zu verdeutlichen: Der Pressebericht trägt die Überschrift: “Im Lager Heuberg - Feldgottesdienst der Reichswehr und der SA. Das Konzentrationslager für Schutzhäftlinge.“ Angetreten waren die im Lager Heuberg stationierten Bataillone sowie die SA-Stürme des Schwarzwaldkreises und der SA-Sturm Stetten, “denen die Bewachung des großen Konzentrationslagers für politische Schutzhäftlinge obliegt“. “Auch ein Kommando Schutzpolizei und eine Sigmaringer Stahlhelmgruppe war unter den langen grauen und braunen Reihen zu bemerken, die den Feldaltar auf dem Lagersportplatz umsäumten.“ Von Stetten selbst hatten sich verschiedene Vereine und die Feuerwehr eingefunden, und aus der Umgebung wollte eine große Anzahl von Gästen den “Nationalfeiertag“ zusammen mit der Reichswehr und der SA begehen. Der Lokalberichterstatter fährt fort: „Im Kontrast zu diesem feierlichen Bild, über dem die schwarz-weiß-rote Reichskriegsflagge stolz im Winde wehte, standen die großen Transporte von Schutzhäftlinge, die just um diese Zeit aus allen Gegenden Württembergs auf mehreren Omnibussen eintrafen, und die teilweise verdrossen, teilweise gleichgültigen Gesichter der Kommunisten, die aus den Türen der Wohnbaracken lugten.“ “Für das Publikum ist das Sammellager gesperrt. Nur anläßlich des Feldgottesdienstes [...] war Gelegenheit, die Gefangenen zu beobachten.“ “Der Bataillonskommandeur und Lagerälteste hielt eine “markige“ Ansprache und führte u.a. aus: “Unter der wiedererstandenen Flagge Schwarzweißrot sind heute die vom Volke gewählten Führer der Nation in Potsdam zusammengetreten. Für uns Soldaten hat diese Stunde eine besondere Bedeutung als ein Ausdruck der nationalen Einigung des ganzen deutschen Volkes. In dieser Weihestunde wollen wir uns, getreu unserem hohen Vorbild, dem Herrn Feldmarschall und Reichspräsidenten von Hindenburg, erneut geloben, unsere Pflicht bis zum äußerten zu tun und rastlos mitzuarbeiten am Wiederaufbau des deutschen Vaterlandes.“ Ein dreimaliges begeistertes Hurra bekräftigte dieses Gelöbnis. Nach einem “schneidigen“ Vorbeimarsch belebten weitere Transporte von “Schutzhäftlingen“ das Lagerbild von neuem. Bis Dienstag waren gegen 400 Häftlinge eingetroffen. Eingerichtet war das Konzentrationslager zunächst für etwa 900 Mann. Feldgottesdienste dieser Art gab es am 21. März 1933 Tausende. Die Predigten, die bei diesem Anlaß gehalten wurden, paßten durchweg in das geschilderte Bild.

Die Predigt, die der 28jährige religiös-sozialistische Pfarrer Ludwig Simon an diesem Tag im Konzentrationslager Heuberg gehalten hat, ist dagegen anders. Die Reaktion der Badischen Landeskirche auf diese Predigt war, dass sie ihn aus Furcht vor SA-Protesten wenige Tage später „zu seinem Schutz“ in ein kleines abgelegenes Dorf im südlichsten Winkel der Landeskirche versetzte – anstatt sich die Botschaft des Evangeliums, vorgetragen durch ihren Pfarrer Ludwig Simon, zueigen zu machen.

Brüder und Kameraden! In dieser Stunde steht die gesamte deutsche Wehrmacht, stehen Millionen deutscher Männer und Frauen unter dem Zeichen des Kreuzes versammelt, um in einem Feldgottesdienst den Segen des Himmels für ihr Vaterland und den heute zusammengetretenen Reichstag zu erleben. Auch wir reihen uns diesen Millionen an und sammeln uns anbetend im Aufblick zum Kreuz unter das Wort der Heiligen Schrift: „Das Lamm, das erwürget ist, ist würdig zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis.“ Gott und unserem Erlöser die Ehre, das muß der Grundton sein, der sich durch unsere Feier hindurchzieht, wenn sein Segen auf unserem Vaterlande ruhen soll. Gott! Jesus Christus! Wissen wir, was wir mit diesem Namen aussprechen? Wo ist Gott? Nur im Leben und in der Wirklichkeit ist er da, als der Herr all unseren Tuns und Lassens - oder ist er nicht da. Gott aber ist Liebe. Nur wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Er sagt uns: Wer seinen Bruder haßt, der ist ein Totschläger. Darum - wo Haß ist, Haß von Mensch zu Mensch oder Haß von Volk zu Volk - da ist Gott nicht, und wenn sein Name immerfort auf aller Munde wäre! Wir müssen uns heute von dem Propheten warnen lassen, der einst seinem Volke zurief: So spricht der Herr: Dies Volk ehrt mich mit seinen Lippen, aber ihr Herz ist ferne von mir. Gott ist Wahrheit - wo Lüge ist, da ist Gott fern. Gott ist Gerechtigkeit - wo Unrecht und Gewalttat herrscht, da ist Gott nicht, auch wenn ihm Gottesdienste ohne Zahl veranstaltet werden. Gott ist Gnade und Barmherzigkeit. Wo Unbarmherzigkeit und Brutalität ist - da ist Gott nicht, auch wenn man stets von ihm reden würde. Gott ist nur da, wo sein Wille geschieht auf Erden wie im Himmel. Wo sein Name geehrt wird, da ist sein Segen.

Darum ist dieser heutige Tag für die deutsche Nation ein so furchtbarer Schicksalstag, weil der Name Gottes all überall in den deutschen Ländern heute angerufen wird. Wird Gott und unser Heiland nun auch Herr in Deutschland sein? Wird seine Herrschaft der Liebe und Wahrheit und Gerechtigkeit anbrechen - oder ist es umsonst, daß wir seinen Namen anrufen? Dann müßte unserem Volk das Wort gelten: Gott der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen mißbraucht. Gericht oder Gnade? Was bedeutet dieser heutige Tag? Die Entscheidung darüber liegt nicht nur bei den Männern, die an der Spitze unseres Volkes stehen, sie liegt auch in der Hand eines jeden Volksgliedes bis zu dem geringsten.

Gebe der Allmächtige, daß wir uns alle dieser Entscheidung bewußt wären. Der Erlöser und Heiland, zu dessen Kreuz wir aufblicken, muß in unseren Herzen seine Herrschaft antreten, wenn wir wollen, daß er in unserem Volke wirklich zur Macht kommen soll.

Beugt euch unter dem Kreuz und gebt dem König der Liebe die Ehre. Nur dann kann der Segen auf unserem Vaterland ruhn! Amen.“

Quelle: Friedrich-Martin Balzer: Kirche, Antifaschismus, Arbeiterbewegung: Erwin Eckert, Hans Francke, Ludwig Simon. In: Friedrich-Martin Balzer: Miszellen zur Geschichte des deutschen Protestantismus. „Gegen den Strom“. Marburg 1990, S. 204-205. Die Genehmigung zur Veröffentlichung auf der Website des BRSD liegt durch den Inhaber der Urheberrechte vor. Zu Ludwig Simon siehe auch: Friedrich-Martin Balzer/Gert Wendelborn: „Wir sind keine stummen Hunde“ (Jesaja 56,10). Heinz Kappes (1893-1988). Christ und Sozialist in der Weimarer Republik, Bonn 1994, S. 122-129. Dort sind auch Fotos vom Gottesdienst im KZ abgedruckt.
   
 
 

Emil Fuchs (1874-1971) Download als PDF
   
 

Religiöser Sozialismus.

1. Vorgeschichte

1899 trat Christoph Blumhardt († 1919) zur Sozialdemokratischen Partei über. Mehrere Jahre (bis 1906) wirkte er öffentlich für sie als Redner und württembergischer Landtagsabgeordneter. Er trat zu der Partei über, die das Christentum bekämpfte, von deren maßgebenden Führern man die Worte hörte: „Religion ist das Opium des Volkes“ (Karl Marx), „Christentum und Sozialismus sind wie Feuer und Wasser“ (August Bebel). Blumhardt hatte erkannt, daß die Methoden kapitalistischer Wirtschaftsgestaltung und die aus ihnen sich ergebende Lage der arbeitenden Massen von christlichem Gewissen nicht mehr verantwortet werden können. Er, der sah, daß man entweder die Welt nach Gottes Willen gestalten oder in Gottes Gericht versinken müsse, glaubte zu erkennen, daß in der Sehnsucht der Massen derselbe Ruf vom Kommen des Reiches aufsteigt, wie er in den Evangelien steht. Er blieb allein. Die deutschen Kirchen waren unfähig, seinen kühnen Glauben zu teilen. Die große, weitverbreitete Gemeinde, Christoph Blumhardts hörte seinen Ruf doch nur als den Ruf zu individueller Neueinstellung und Lebensverantwortung. Die geistige Lage in Deutschland ermöglichte es nicht, daß sein Beispiel weiterwirkte. So sehr er in Württemberg Anklang fand - auch bei der Masse der sozialistischen Arbeiter und Führer - sein politisches Wirken blieb eine Episode, die weder im Lager der christlichen Kreise noch im Lager des Sozialismus etwas Entscheidendes änderte.

2. Religiös-Soziale in der Schweiz

Gehört aber wurde sein Ruf in der Schweiz. - Leonhard Ragaz (geb. 28. Juli 1868) und Hermann Kutter (1863-1930), werden von Blumhardts Gedanken ergriffen. Es ist zunächst die leidenschaftliche Gewalt der Schriften Kutters, die vor allem beachtet wird. Seine Schrift: „Sie müssen“ (1904) bewegt die religiös gesinnten Menschen der gesamten christlichen Welt. Die Sozialdemokraten müssen den Kampf gegen diese Gesellschaftsordnung führen, denn Gott fordert, treibt sie dazu, wenn sie es auch nicht wissen. Gott will durch sie eine neue, höhere Ordnung der Gesellschaft schaffen. - Nun gilt es für die Christenheit, diesen Ruf zu hören, den lebendigen Gott zu verstehen, zu verkünden und so mitzuarbeiten, daß neue Verantwortung und aus neuer Verantwortung eine neue Gesellschaft werde. In leidenschaftlichem Zorn greift er das Versagen der Christenheit immer wieder an - in „Gerechtigkeit, ein altes Wort für die moderne Christenheit“ (1905), „Wir Pfarrer“ (1907), „Die Revolution des Christentums“ (1908), ein Zeugnis von der revolutionären Gewalt der Liebe. - Langsam, aber immer deutlicher tritt neben ihm die stille, mächtige Arbeit von Leonhard Ragaz in die Führung der Bewegung. Seitdem er 1908 Professor an der Universität Zürich geworden ist, erzieht er einen Kreis bedeutender und begeisterter Schüler, die seine Gedanken in die kirchliche Organisation tragen. Und gleichzeitig beginnt seine große Wirksamkeit, die weit über die Schweiz hinaus nach Frankreich, Holland, England, Amerika, Skandinavien und Deutschland geht, der Kampf gegen die Dämonen der bestehenden Gesellschaft Kapital und Kapitalanbetung, Profit und Machtgier, Imperialismus. Es ist seine Größe, daß er diese Gewalten zusammen sieht und den Kampf gegen sie, ihre Wirksamkeit in Staat und Kirche, Volksleben und Familie, äußerer und innerer Politik und Wirtschaftsleben führt. Von ihm wird die Notwendigkeit der gesamten geistig-wirtschaftlich-politischen Umstellung der Gesellschaft erkannt. Es ist Blumhardt, in dessen Botschaft ihm das erschlossen wird. Hier wurde ihm klar, daß Jesus Christus nicht eine Lehre, sondern ein Leben in die Welt gebracht hat. Ihm steht im Mittelpunkt der Ruf an alle, die Christen sein wollen, daß in diesem Glauben an das wirklich aus Gott uns ergreifende Leben und diese uns aufgelegte Aufgabe die Christenheit sich erneuere und eine erneuernde Macht der Gesellschaft werde. So geht er zur Sozialdemokratie, um lebendig zu bezeugen, daß er zu denen gehört, in denen die Sehnsucht nach der Erneuerung lebt. So legt er später seine Professur nieder, um auch die Unsicherheit des Lebens mit ihnen zu teilen und nur der Arbeit dieser Erweckung und von der Arbeit dieser Erweckung zu leben. So bildet sich um ihn in der Schweiz die „religiös-soziale Bewegung“. Wichtig ist, daß diese Bewegung auch ins Schweizer Bauerntum übergreift und ein eigenes Programm für den Bauern entwickelt, der wahrhaft Christ sein will und deshalb zu sozialistischen Gedanken kommt.

Zwei Höhepunkte erreicht die Wirksamkeit dieser Bewegung. Mit Ausbruch des Krieges ist Ragaz einer der Führer, von denen aus der Christenheit die klare, deutliche Linie des Kampfes gegen den Geist der Gewalt, den Glauben an die Gewalt gezeigt wird, während er gleichzeitig durch seine Verbindungen nach beiden Lagern hin eine mächtige Arbeit beginnt, dem Haß und der Verständnislosigkeit entgegenzuwirken. Auch Praktisches wird geschaffen. Ragaz und seine Frau, Clara Ragaz, begannen eine persönliche Arbeit, aus der das große Werk entstanden ist, durch das den Angehörigen der Vermissten und Gefangenen von einem Land zum andern über die Schweiz Auskunft zukommen konnte. Zugleich ist er in der Schweiz und darüber hinaus für die Sozialdemokratie einer der Männer, die den Geist internationaler Verpflichtung gegen die aufsteigende „nationale“ Kurzsichtigkeit trugen. Stellt ihn dies den Zimmerwaldern*1) näher, so ist er von diesen radikal geschieden durch die Ablehnung jeder Gewalt. Nach der deutschen Revolution ist er mit seinem Kreis Hauptkämpfer gegen die aufsteigende Macht kommunistischer Gedanken in der Schweiz und gibt mit die Entscheidung dafür, daß diese Bewegung entscheidend zurückgedämmt wird und sozialdemokratische Politik sich durchsetzt. Sein starkes, schroffes Auftreten gegen alles, was dann wieder in der Politik der Schweizer Sozialdemokratie zu sehr Anpassung an bürgerliche Behaglichkeit und Nationalismus scheint, trägt ihm dann wieder von hier Gegnerschaft ein. Seine Zeitschrift „Neue Wege“ (seit 1906) ist dabei das Kampf- und Arbeitsorgan für ihn.

Zweierlei Momente sind für die Bewegung der „Religiös-Sozialen“ nach der deutschen Revolution bedeutsam. Sie greift über nach Deutschland. Dort entsteht die Bewegung der Religiösen Sozialisten. Bald aber beginnt in der Schweiz und in einem Teil der deutschen Bewegung eine Umwandlung der Gesinnung. Einige der persönlichen Schüler von Ragaz verarbeiten die von ihm empfangenen Anregungen und Gedanken unter dem Einfluß eines tiefen Pessimismus, die Krieg und Revolution bewirkten, zu einer eigenen der „dialektischen Theologie“ (Karl Barth und Friedrich Gogarten, Eduard Thurneysen und Emil Brunner). Die Grundgedanken der über Ragaz von Blumhardt kommenden religiösen Botschaft von dem Einbruch Gottes in die Welt, seiner Forderung der Entscheidung von Mensch und Gesellschaft, vom Gericht und von Gnade werden hier theologisch bis in schärfste Konsequenzen durchgearbeitet in der Meinung, daß logische Korrektheit es am sichersten verbürge, daß man der Kraft der Wahrheit und ihrer Forderung nicht ausweiche. Der Erfolg ist eine Abwendung von all der Lebenswirklichkeit, die in Ragaz diese Gedanken trägt und von ihnen getragen wird.

3. Der wissenschaftliche Führerkreis in Deutschland

Anfangs mit diesem Kreise verbunden, dann immer deutlicher ein eigenes Denken entwickelnd, bildet sich der eine deutsche Kreis religiöser Sozialisten. Er ist am deutlichsten gekennzeichnet durch die Namen Karl Mennicke (jetzt Professor der Pädagogik an der Universität Frankfurt), Paul Tillich (Professor der Philosophie, ebenda); auch Günther Dehn (Professor der Theologie in Halle), Eduard Heimann (Volkswirtschaftler an der Universität Hamburg), Emil Blum (Leiter der Heimvolkshochschule Habertshof), Fritz Klatt (Leiter der Heimvolkshochschule Prerow und dazu jetzt Professor an der Pädagogischen Akademie in Altona), Hermann Schafft (Professor an der Pädagogischen Akademie in Kassel), sind hervorragende Führer dieses Kreises. - Er fand zunächst von 1909 ab seinen Mittelpunkt in der Zeitschrift „Blätter für religiösen Sozialismus“ (hrsg. v. K. Mennicke).

In diesem deutschen Kreis tritt das Problem des Marxismus in den Mittelpunkt. Man sieht zunächst einmal die gewaltige Wahrheit der ökonomischen Geschichtsbetrachtung und die mächtige Gewalt der marxistischen Gedankenwelt über die sozialistische Bewegung. Ihr gilt es nun, die Erkenntnisse, die von hier aus sich erschließen, zusammenzusehen mit den Mächten und Erkenntnissen geistiger Art, geistiger Bewegung und Tiefe, mit den Fragen und Gewalten, die im religiösen Leben und kirchlicher Organisation vor uns hingestellt werden und ins Gesellschaftsleben wirken. In den Arbeiten von Paul Tillich gestaltet sich ein umfassender Überblick über die Gesamtheit der wirtschaftlich-geschichtlich-geistig treibenden Kräfte, eine neue Grundlage geistiger Zusammenschau der geschichtlich die Menschheit gestaltenden Mächte. In den Arbeiten von Mennicke wird das politische und kulturell-organisatorisch sich gestaltende Leben der proletarischen Massenbewegung unter diesen Gesichtspunkten des Werdens einer neuen sozialistischen Geistigkeit beobachtet. Eduard Heimann trägt die neuen Gesichtspunkte religiöser Fragestellung in die Durchdringung des Wirtschaftslebens hinein.

Für diese ganze Bewegung und alle ihre Mitarbeiter handelt es sich um eine vertiefte geistige Grundlegung der sozialistischen Bewegung, die aus dem Marxismus über ihn hinaus aufsteigt, neue Tiefen und Macht der religiösen Entscheidung ahnen läßt, scharf kritisch nach beiden Seiten hin, beide zu der in der Gegenwart geforderten Leistung geistig und erkenntnismäßig rüsten will. Nachdem die Blätter für religiösen Sozialismus eingingen, schuf man die Zeitschrift „Neue Blätter für den Sozialismus“ (Alfred Protte Verlag, Potsdam). Sie stellen eine fortlaufende kritische Beleuchtung der gegenwärtigen Geschichte und Aufgaben des Sozialismus aus der Macht religiösen Verantwortungsgefühls dar. Letzteres tritt, wie es den Grundgedanken der Richtung entspricht, nicht in irgendwie formulierten, bewußten Gedanken und Formeln hervor, sondern zeigt sich in der ganzen Art der Beurteilung aller Fragen und Erscheinungen des Gesellschaftslebens. Sie in ihrem wahren Sinn, ihrer ganzen Bedeutung zu erfassen und die Zukunftsaufgabe darin zu sehen, das ist das Erfassen der religiösen Bedeutsamkeit, die in der Wirklichkeit steht, nicht neben oder außerhalb ihrer zu suchen ist oder aus einem andern Bereich des „Religiösen“, „Theologischen“ oder „Kirchlichen“ in die Wirklichkeit hineingetragen oder hineingedeutet werden darf. Aus ihr selbst ist ihre entscheidende Bedeutsamkeit zu fassen. In diesem Wissen vom letzteren Sinn im Geschehen selbst ruht das Zusammentreffen mit Karl Marx, dessen Gedankenwelt auf einer entscheidend höheren Ebene erneuert wird.

4. Religiöse Gemeinschaftsbildung im Proletariat.

Neben diesem Kreis wissenschaftlich arbeitender Gelehrter, die zum Teil daneben Politiker sind, zum Teil nur forschende Gelehrte, erwuchs in Deutschland ein anderer Kreis religiöser Sozialisten, eine Arbeit religiöser Gemeinschaftsbildung für all die einfachen und komplizierten Menschen, die, im Sozialismus stehend, ihrer alten religiösen Heimat entwachsen sind. Sie wird getragen zum Teil von Menschen, die sich diesem wissenschaftlichen Kreis nahe fühlen, mit ihm arbeiten, zum Teil von solchen, die einfach nur Sozialisten sind und sein wollen, daneben religiöse Menschen, Christen.

a. Süddeutsche Bewegung

So bildete sich in Baden 1919 der „Badische Volkskirchenbund“, neben den 1920 der von dem jungen Pfarrer Erwin Eckert in Pforzheim gegründete „Bund evangelischer Proletarier“ trat. Aus ihnen ging später der „Bund evangelischer Sozialisten“ hervor. Man will in der evangelischen Kirche das Bewußtsein wecken, daß sie sich für die Neugestaltung der Gesellschaft einzusetzen hat. Man will nach der Seite des Sozialismus hin die Bedeutung christlicher Glaubenshaltung deutlich machen. Man weiß aber, daß die Massen nur dann die Kraft christlicher Haltung erkennen können, wenn Kirche und christliche Kreise erkennen, daß die kapitalistische Wirtschaftsordnung und Ausbeutung der Massen von christlichem Gewissen nicht ertragen werden dürfen. Führend wurden in diesem Kreise neben Eckert (Pfarrer in Mannheim), Heinrich Dietrich (Oberstudiendirektor in Mannheim), Rechtsanwalt Dr. [Eduard] Dietz (Karlsruhe), Pfarrer Heinz Kappes (Karlsruhe). Schwere Kämpfe mit der badischen Landeskirche hatte dieser Bund zu bestehen, die sich vor allem um die leidenschaftliche Persönlichkeit Eckerts drehten. Dieser ist inzwischen zur Kommunistischen Partei übergetreten, ohne seine Zugehörigkeit zum Bund aufzugeben. Die badische Landeskirche hat ihn als Pfarrer daraufhin suspendiert und das Disziplinarverfahren auf Entfernung vom Amt eröffnet.*2) Von Baden aus griff die Bewegung über nach Württemberg, Pfalz, Hessen, Frankfurt a. M., wo sich überall Landesverbände des Bundes bildeten. Der Badische Bund gab seit 1920 das „Christliche Volksblatt“ heraus. Seit 1923 nahm dieses den Namen „Sonntagsblatt des arbeitenden Volkes“ an und wurde Gesamtorgan des Bundes religiöser Sozialisten Deutschlands. Seit dem 1. Januar 1931 führt es den Namen „Der religiöse Sozialist“.*3)

b. Preußische Bewegung

Ein zweiter Mittelpunkt der Bewegung ist Berlin. Dort gründete Pfarrer nther Dehn 1919 den „Bund sozialistischer Kirchenfreunde“, dessen Name, wie der anfängliche Name der Badener schon sagt, wie viel leichter man sich das Zusammenführen von Kirche und Proletariat dachte, als es sich von beiden Seiten her später erwies. Um dieselbe Zeit gründete Pfarrer lic. Piechowski den „Bund religiöser Sozialisten“ in Neukölln, ebenso bildete sich in Charlottenburg um Pfarrer Bleier die „Vereinigung der Freunde von Religion und Völkerfrieden“ mit einem sehr weitgreifenden Einfluß auf die Arbeiterschaft. Ihr Organ ist das Monatsblatt „Der Weltfriede“ (hrsg. von Bleier). Während diese Gruppe - trotz naher geistiger und persönlicher Verbindung für sich blieb, vereinigten sich die beiden andern unter der energischen Führung des Gewerkschaftssekretärs Bernhard Göring, der Pfarrer Piechowski und Franke. Für weitere Kreise bedeutsam wurde die Arbeit dieses Bundes zum ersten Male durch die sogen. „Neuköllner Denkschrift“, die die Neuköllner Gruppe 1920 der verfassungsgebenden preußischen Kirchenversammlung einreichte. In ihr sind die Forderungen der religiösen Sozialisten an die Kirche sehr klar und entschieden formuliert. Von Berlin aus erfaßte die Bewegung weitere Gebiete des östlichen und mittleren Preußens und Anhalts. So bildete sich unter Görings Führung der Landesverband Preußen des Bundes religiöser Sozialisten, der nach und nach ganz Preußen umfaßt.

Ihm angeschlossen ist auch die von Köln aus sich bildende Bewegung. Dort bildete sich um Pfarrer G[eorg] Fritze ein Kreis, der die Frage Religion und Sozialismus in tiefer Innerlichkeit und Wucht durchdachte. Von Anfang an gehörten zu diesem Kreis auch Katholiken, so daß aus ihm die Arbeit des deutschen Bundes katholischer Sozialisten hervorging. Er gewann außerdem Freunde in Rheinland und Westfalen, so daß auch dieser Teil Preußens von einer kraftvollen Bewegung durchsetzt ist.

c. Thüringer Bewegung

Von 1921 ab trat als ein weiteres selbständiges Zentrum der Bewegung Thüringen in die Arbeit. Dort bildete sich um Emil Fuchs (damals Pfarrer in Eisenach), ein Kreis von Menschen. Man glaubte, in kirchlichen Kreisen nicht ertragen zu können, daß ein Sozialist Pfarrer sei. Es kam zu heftigen Kämpfen in Eisenach, den Städten und Dörfern Thüringens, der Rhön bildeten sich Kreise von Menschen, die für ihn eintraten und zu ihm standen. Es begann eine energische Arbeit, die Kirche zu ihrer Pflicht des Protestes gegen die kapitalistische Gesellschaft zu mahnen, im Sozialismus die Notwendigkeit religiösen Lebens deutlich zu machen. Ein Kreis von Pfarrern und eifrigen Trägern der Gedanken bildete sich, der nach beiden Seiten Einfluß gewann und immer mehr gewinnt. Heute steht an der Spitze der dortigen Bewegung Pfarrer Kleinschmidt (Eisenberg), Oberlehrer O. Kunz (Altenburg i. Thür.). Von Thüringen aus griff die Bewegung nach Sachsen und ins nördliche Bayern über. Während in Sachsen nach beiden Seiten die schwersten Widerstände die Arbeit nur sehr langsam vorangehen lassen, ist das nördliche Bayern (Franken) ein ganz besonders empfänglicher Boden. Es ist zu erwarten, daß dort die Bewegung ganz besonders stark anwächst. Ganz spontan bildete sich in nchen unter der Führung von Konsul v. Falkenhausen ein Kreis, der die organisatorische Arbeit für ganz Bayern trägt.

d. Volkskirche in Lippe

Ganz besonders merkwürdig vollzog sich die Bewegung im kleinen Lippe. Ein scharfer Kampf zwischen Schule und Kirche verursachte eine starke Kirchenaustrittsbewegung besonders unter der Lehrerschaft. Mit ihr trat ein junger Theologe Heinrich Schwarze in Verbindung. Man gründete die „Freie Volkskirche“, eine neben der Landeskirche stehende, freie sozialistische Kirche, die in enger Verbindung mit dem Bund religiöser Sozialisten steht.

5. Bund religiöser Sozialisten in Deutschland

Alle diese an verschiedenen Orten selbständig gewordenen Bewegungen wuchsen allmählich zum Bund religiöser Sozialisten in Deutschland zusammen, der nun in fast allen deutschen Ländern seine Unterverbände hat. Zwar steht er fast überall in schweren Kämpfen mit den Landeskirchen, ist aber auch über ganz Deutschland hin heute sowohl im proletarischen als im kirchlichen Leben eine Macht, die nicht mehr übersehen werden kann. Der Bund hält seine Kongresse alle zwei Jahre (3. Aug. 1928 zu Mannheim, 3. Aug. 1930 zu Stuttgart).*4) Die Bewegung gibt zwei Blätter heraus: den „Religiösen Sozialisten“ (hrsg. früher von E. Eckert, Mannheim, seit dessen Austritt aus dem Bund von Pfarrer Dr. Schenkel, Stuttgart);*5) das Blatt erscheint sonntäglich und ist das eigentliche Band, das die ganze, durch Deutschland zerstreute Masse der Mitglieder und Anhänger der Bewegung zusammenhält. Seit 1929 erscheint die Monatsschrift des Bundes „Zeitschrift für Religion und Sozialismus“ (hrsg. v. Professor D. Wünsch und Heinrich Mertens, Frankfurt). Sie führt die wissenschaftliche Auseinandersetzung der Bewegung mit den Fragen und geistigen Bewegungen der Zeit und ist der Mittelpunkt der Arbeit, die gesamte Haltung, Weltanschauung und religiöse Stellung der Bewegung wissenschaftlich zu klären und zu gründen.

6. Bund katholischer Sozialisten

Ganz besonders bedeutsam ist, daß auch auf dem Boden der katholischen Kirche eine Bewegung katholischer Sozialisten beginnt. Ihre Führer sind Heinrich Mertens (früher Köln, jetzt Frankfurt a. M.) und Otto Bauer (Wien). Die Kölner Bewegung ist besonders eine wissenschaftliche Auseinandersetzung innerhalb katholisch frommer Menschen um die Frage „Katholizismus und Sozialismus“. - Von Mertens wurde einige Jahre „Das Rote Blatt der katholischen Sozialisten“ herausgegeben, das dann mit der Zeitschrift „Religion und Sozialismus“ verschmolzen wurde; Heinrich Mertens wurde deren Mitherausgeber. In Wien bildete sich um die naiv-prophetische Gestalt des Arbeiters Otto Bauer eine starke, wachsende Bewegung aus der sozialistischen Arbeiterschaft katholischer Herkunft selbst. Diese Tatsache und die ganz besonders eigenartig-bedeutende, kindlich-tiefe und überragend-sichere Persönlichkeit Otto Bauers geben das Recht, von hier aus Wichtiges zu erwarten. Daß gerade in Österreich eine so starke Bewegung aus der Arbeiterschaft selbst erwuchs, hängt mit der Tatsache zusammen, daß dort die katholische Kirche sehr stark für die Politik der Rechtsparteien in Anspruch genommen wird. Die Erneuerung der Enzyklika „Rerum novarum“ zu deren 40jährigem Jubiläum und die Enzyklika „Quadragesimo anno“ (vgl. diesen Art. und Art. Enzykliken) von diesem Jahr haben die katholischen Sozialisten in einen schweren Konflikt gestellt. Da sie treue, der Kirche gehorsame Katholiken sind und sein wollen, kann ihnen die Stellungnahme der höchsten Autorität ihrer Kirche nicht gleichgültig sein. Allerdings wissen sie, daß die Autorität des Papstes nur für religiöse Fragen gilt. Keine der Enzykliken über die soziale Frage ist „ex cathedra“, d. h. als ausgehend vom unfehlbaren Lehramt der Kirche, verkündet worden. So weisen die Vertreter der katholischen Sozialisten darauf hin, daß die Theologen, deren Rat den Papst zu diesen Bestimmungen kommen ließ, die katholische Lehre in einer mechanischen Abhängigkeit von den Gedanken Thomas‘ v. Aquin deuteten. Wer in echtem Verständnis dieses großen Mannes dessen Grundanschauungen aber in das Gefüge, die Wirtschafts- und Gedankengestaltung unserer Zeit übersetze, der müsse gerade von da aus zu sozialistischen Überzeugungen kommen. - Sie weisen außerdem daraufhin, wie sehr die päpstlichen Ratgeber den Sozialismus und Marxismus mißverstehen, wenn sie diesem zuschreiben, daß er völlige Aufhebung des Privateigentums jemals gefordert habe.

7. Bund jüdischer Sozialisten. Überkonfessionelle Gemeinschaft

Auch ein Bund jüdischer Sozialisten hat sich gebildet. Da innerhalb der jüdischen Gemeinden die Frage des Sozialismus nicht zu solch intensiven Auseinandersetzungen geführt hat, wie innerhalb der christlichen Kirchen, tritt er nicht in gleicher Weise hervor wie die anderen Teile der Bewegung. Wichtig und beachtenswert ist seine Existenz auf jeden Fall, ebenso, daß er innerhalb des weiteren Rahmens der Bewegung ganz eng und gleichberechtigt mit den andern Gruppen zusammenarbeitet. „Der Bund religiöser Sozialisten in Deutschland“ ist zugleich eine Art Dachorganisation für alle diese Bünde. Sicherlich gehört das auch zu den bedeutsamen Zukunftsaussichten, die in der Bewegung der religiösen Sozialisten sich eröffnen, daß in ihr Menschen aus allen Richtungen des Protestantismus von der äußersten Orthodoxie, dem Pietismus her (Eckert)*6), bis zum energischsten Vertreter theologisch-kritischer Gedanken (Schenkel) miteinander wirken, dann die überzeugten Katholiken dieser Gruppe und die überzeugten Vertreter jüdischer Religiosität wieder mit den Protestanten zusammenarbeite“. Es ist hier wohl zum ersten Male eine Bewegung, in der die Frage der Verwirklichung christlicher - überhaupt religiöser - Gewissensforderungen in der Gesellschaft so entscheidend in den Mittelpunkt tritt, daß darüber die Verschiedenheit der dogmatischen Auffassung der Religion völlig nebensächlich wird. Sie wird nicht vergessen. Jedem ist es ein wichtiges Anliegen, seiner Frömmigkeit die rechte Sprache und Klarheit innerhalb der gegebenen Welt zu schaffen; aber jeder freut sich der Art und Wahrhaftigkeit des anderen.

8. Außerdeutsche Bewegung

a. Die Schweiz

Außerhalb Deutschlands hat die Bewegung Mittelpunkte in der Schweiz. Der um Ragaz gescharte Bund der deutschen Schweiz hat die Organe ein Monatsblatt „Neue Wege“ seit 1906 von Ragaz herausgegeben, und der „Aufbau“ (hrsg. v. Max Gerber, Zürich), ein in Luzern erscheinendes Wochenblatt.

b: Fédération des Socialistes chrétiens de la langue française

Daneben besteht für die französische Schweiz die „Fédération Romande des socialistes-religieux“, dessen Sekretärin Hélène Monastier ist. Paul Passy (lange Zeit Professor an der Sorbonnne) ist der Führer der französischen religiösen Sozialisten. Neben ihm tritt André Philipp hervor (Professor der Nationalökonomie in Lyon). Ein „Bund katholischer Sozialisten“ hat sich unter Laudrain gebildet. Die französische Organisation führt den Namen „Union des Socialistes Chrétiens“.

Zur Arbeitsgemeinschaft der französisch sprechenden Sozialisten gehört auch eine belgische Gruppe, geführt von Chalmet, einem sozialistischen Landtagsabgeordneten. Sie umfaßt Protestanten und Katholiken. Diese alle zusammen bilden die „Fédération des Socialistes Chrétiens de la langue française“ (Zeitschrift „L‘Espoir du Monde“, mit der Monatsbeilage „Voies Nouvelies“ für die französische Schweiz. Erscheinungsort: (Liéfra p. Fulette, Aube).

c. Holland

Sehr stark ist die religiös-soziale Bewegung in Holland, Führer ist dort der frühere Pfarrer, jetzige Leiter der Heimvolkshochschulen von Barchem und Benvort Dr. W. Banning, der Verfasser des ausgezeichneten Werkes „Jaurès als Denker“ (Arnhem 1931). Seine Stellung im politischen Leben und der Volksbildungsarbeit Hollands sichert der Bewegung, die von einem weiteren Kreis ausgezeichneter Männer und Frauen getragen ist, unter ihnen die Schriftstellerin und Dichterin Henriette Roland-Holst und die einstige Leiterin der sozialen Frauenschule Amsterdams Emilie C. Knappert, einen weitgreifenden Einfluß im Sozialismus, im gesamten geistigen Leben Hollands.

Die Bewegung hat sich organisiert im „Bond von Christen socialisten“ und gibt seit 31. Oktober 1902 die Zeitschrift „De blyde Wereld“ (die freudige Welt) heraus.

d. England

In England ist die Labour Party und noch mehr die „Independent Labour Party“ ganz stark von Menschen religiöser, christlicher Einstellung getragen. Das galt von Keir Hardy ganz besonders, gilt von Henderson, Roden Buxton, Walter Ayles und andern parlamentarischen Führern. Trotzdem hat sich eine besondere Gruppe zusammengetan, in der protestantische und katholische Christen in enger Arbeitsgemeinschaft daran arbeiten, innerhalb der Arbeitermassen eine bewußte Einstellung zum Christentum herbeizuführen und in der Gesamtbewegung das gewissenhafte Durchdenken aller Zeitprobleme im Lichte christlicher Gewissensforderungen lebendig zu erhalten. Politik und Taktik sind ja auch für den ernsthaften Christen Gefahren, denen immer wieder neue Aufmerksamkeit begegnen muß. „The Society of Socialist Christians“ hat so eine energische Wirksamkeit unter der Führung von Fred Hughes, London. Ihr Organ ist das von diesem heraus gegebene Monatsblatt „The Socialist Christian“ (früher „The Crusader“).

e. Internationale Organisation

Einzelne Männer und Frauen, die der Bewegung nahe stehen, finden sich in allen europäischen Ländern.
Besonders in Schweden hat sie sehr stark hervortretende Freunde. Aber auch in den Vereinigten Staaten von Amerika stehen weite Kreise ihren Gedanken nahe, besonders der sich um die Zeitschrift „The world tomorrow“ scharende, geistig bedeutende und einflußreiche Kreis. Zusammengefaßt sind alle diese Gruppen in der „Internationalen Organisation der Religiösen Sozialisten“, deren Präsident Dr. Leonhard Ragaz, Zürich, ist. Sie hält alle zwei Jahre einen internationalen Kongreß, der 1931 in Frankreich stattfand (Lièvin vom 18.-21. Sept.). Im zwischenliegenden Jahr hält jede nationale Organisation ihren Kongreß.

9. Das Wollen der Bewegung

a. Die religiöse Aufgabe in der Gesellschaft

Die Bewegung der religiösen Sozialisten will zu aller erst eine Erneuerung des religiösen Lebens der Menschheit sein. Sie fühlt sich selbst als eine solche, indem sie viele Menschen zusammenfaßt, die sich verpflichtet fühlen, aus dem Geiste wahrhafter Frömmigkeit die Neugestaltung der Gesellschaft mit zu fordern, zu tragen, zu erkämpfen. Es scheint ihr, daß es keine Erneuerung der Frömmigkeit geben kann, wenn nicht die Verantwortung für Geist, Arbeit, und Organisation der gesamten Gesellschaft empfunden wird. Daß in ihr aus religiösem Geist diese Verantwortung so stark erwacht, ist ihr das Zeugnis der beginnenden Erneuerung. Mit Kutter und Ragaz sieht sie in der proletarischen Bewegung der Massen, ihrer Not und Verzweiflung und Bitterkeit - aber auch in ihrem gewaltigen Glauben und Sehnen nach neuer Gerechtigkeit im Gesellschaftsleben, neuer Gestaltung des wirtschaftlichen und politischen Lebens der Menschheit das Werk, in dem die Gottheit heute uns allen die eine große lebenserfüllende Aufgabe stellt. Diese Aufgabe muß gelöst werden. Weigert sich die Menschheit dieser Lösung, so muß daraus das Gericht über diese Welt, in ungeheurem Kampf und Untergang kommen. Im Beginn dieses Zerbrechens der Welt an ihrer Ungerechtigkeit und Gewissenlosigkeit stehen wir.

Es hat sich gezeigt, daß da, wo man diese Verantwortung neu fühlt, die Botschaft Jesu mit neuer Gewalt empfunden wird. Der religiöse Sozialismus faßt alle zusammen, die innerhalb der proletarischen Bewegung von der Bedeutung der Frömmigkeit etwas wissen. Er fragt nicht: Wie formulierst du deinen Glauben, welcher Kirche gehörst du an, welche Lehren drücken deinen Glauben aus? Aus diesem Grunde vermied man die anfänglich gebrauchten Namen „Christliche“ oder „Evangelische“ Sozialisten. Aber in seiner ganzen Bewegung ist die Botschaft und der Geist Jesu mächtiger und mächtiger geworden. Er ist eine Erneuerung der Haltung Jesu, der nicht eine neue Religion der Kirche gründen wollte, sondern dem seine Bedeutung sicherte, was aller Religion Leben ist, daß der Ruf der Selbstoffenbarung Gottes gehört wird, der ein Ruf zur Verantwortung des Menschen für sein und anderer Menschen ganzes Sein und Leben in seiner gottgegebenen Heiligkeit ist. So stellen die religiösen Sozialisten unter der Führung von Ragaz den Gedanken des „Reiches Gottes“ wieder in den Mittelpunkt der Verkündigung:         Wir sind von Jesus her gerufen, eine neue Welt der Gerechtigkeit zu bauen, und empfangen von ihm her die Kraft dazu. Wer von diesem Auftrag weiß, kann sich der Aufgabe nicht versagen, die gänzlich sinnlose, menschenvernichtende Gesellschaftsordnung, in der wir leben, durch eine sinnvolle, vom Willen zur Gerechtigkeit getragene zu ersetzen. Nicht „das“ Reich Gottes, aber ein Schritt in der Erfüllung des in seiner Verkündigung gestellten Menschheitsauftrages ist der Sozialismus. Deshalb fühlen wir uns als Christen, als religiöse Menschen verpflichtet, zu denen zu treten, die sich um seine Verwirklichung mühen.

Es ist den religiösen Sozialisten klar, daß es hier für den Christen, den religiösen Menschen überhaupt keine „Neutralität“ geben kann. Das Zertreten des Menschentums durch die kapitalistische Gesellschaft zwingt jeden religiösen Menschen, um die Heiligkeit des Menschseins gegen sie zu kämpfen. Der Christ aber vor allem ist durch Jesu Botschaft und Beispiel gezwungen, zu denen zu treten, die von der Sünde der Gesellschaft in die tiefste Not, das tiefste Zerbrechen gedrückt werden. Gerade, wenn er in ihrer Ablehnung der Religion, ihrer wachsenden Unfähigkeit frommes Leben zu gestalten sieht, wie sie zerbrochen werden, muß er um so deutlicher zu ihnen stehen. Die Kirchen sehen das nicht. Dies scheint uns das deutlichste Zeichen, wie sehr sie die Botschaft des Evangeliums verwechseln mit den Formen, die es innerhalb dieser bestehenden Gesellschaftsgestaltung angenommen hat. Sie sind zufrieden, es in traditionellen sittlichen Urteilen und Lebensformen weiterzugeben.

b. Die Aufgabe gegenüber den Kirchen

So steht die Bewegung der religiösen Sozialisten in einer Spannung zu den vorhandenen Kirchen. Das gilt auch von denen ihrer Mitglieder, die in diesen Kirchen notwendige Gestaltungen des religiösen Lebens sehen und sich an sie gebunden fühlen. Sie fühlen zugleich, wie sehr diese Kirchen mit ihrer gesamten Organisation und Gesinnung ein Stück der bestehenden bürgerlichen Gesellschaft geworden sind und in ihnen die Kritik des Evangeliums, religiöser Haltung gegen die Welt, ihre Zivilisation, ihre Kultur erloschen, schwach geworden ist. Am deutlichsten ist das ja in der Frage des Eigentumsrechtes, in der auch die Kirchen jene Urteilsweise tragen, die das Recht auf Eigentum über - nicht unter - das Bewußtsein der Verpflichtung gegenüber Menschenwert, Menschengemeinschaft und -verantwortung für Heiligung des Lebens und der Zukunft stellt. Aber für jeden Punkt sittlicher Lebensgestaltung könnte man ähnliches aufzeichnen. Die Kirchen sind dadurch nicht mehr Anwalt der unbedingten Forderung von Heiligung des Lebens gegenüber den selbstverständlichen Interessen der Vermögensbildung, Lebenssicherung, Lebensbehaglichkeit und Wirtschaftsinteressen. Hier fühlt sich die Bewegung als Anwalt religiöser Wahrheit gegenüber einem ganz lebensgefährlichen Erschlaffen der Kirchen. Wenn man ihr sagt, sie sei Partei, weil sie die Neutralität ablehnt, die sich für Gesellschaftsgestaltung nicht verantwortlich fühlt, so weist sie sehr energisch auf diese Tatsache hin, daß sie um die Aufgabe der Kirche mit der Kirche ringt, damit die Kirche nicht Partei bleibe und in blindem Stützen des Bestehenden dem Worte Wahrheit verleihe: „Opium des Volkes“.

Der Katholik in der religiös-sozialen Bewegung fühlt sich an das Sakrament und die Autorität der Kirche gebunden, der Protestant an die Kirche, die durch Luther, Zwingli oder Calvin die Botschaft des Evangeliums wieder in den Mittelpunkt rückte und heute trägt. Beide aber fühlen es mit Entsetzen, daß dieselbe ihnen wichtige Kirche die entscheidende Aufgabe lebendigen Christentums, der Welt die Aufgabe des Reiches Gottes ins Gewissen zu rufen, in einer lahmen Anpassung an bestehende, für christliches Gewissen in ihrer Gottlosigkeit unerträgliche gesellschaftliche Zu stände versäumt habe und versäumt. Beiden erscheint die glühende Arbeit an dieser Aufgabe als das wichtigste Lebenszeugnis jeder Frömmigkeit. Hier liegt die Kraft, die sie verbindet über die Grenzen der Kirche hinaus und ihnen zugleich die Möglichkeit unbeugsamer Aussprache dieser Kritik ihren Kirchen gegenüber gibt. So können Menschen, die sich an eine der Kirchen oder religiösen Gemeinschaften für sich gebunden fühlen, unbefangen mit Gliedern der anderen, ja mit solchen, die keiner dieser Gemeinschaften angehören, zusammenarbeiten. Es bindet sie das Wissen von dem göttlichen Auftrag, eine neue Weltgestaltung zu schaffen. Gefordert ist nur, daß jeder, der einer Kirche oder religiösen Gemeinschaft angehört, in unermüdlicher Arbeit das Seine tut, diese religiöse Gemeinschaft zu ihrer mitgestaltenden Aufgabe an der Gesellschaft zu wecken. Während die katholischen Sozialisten dies nur dadurch tun können, daß sie die Organisation ihrer Kirche zur Beachtung ihrer Gedanken zwingen, hat der Bund religiöser Sozialisten durch seine der evangelischen Kirche angehörenden Glieder eine sehr energische kirchliche Erneuerungsbewegung begonnen. Er beteiligt sich an den kirchlichen Wahlen und hat in Köln und Berlin deutliche Erfolge in den kirchlichen Gemeindewahlen erzielt, in Baden, Thüringen, Pfalz, Württemberg, Anhalt für die Wahlen zu den Landeskirchentagen, so daß er hier einen wachsenden Einfluß auf das gesamte kirchliche Leben erringt. Dieser Einfluß wird verstärkt durch die wachsende Zahl von Gemeinden, die religiös-sozialistische Pfarrer wünschen und anstellen und durch die lebendige Auseinandersetzung, die diese Pfarrer ins religiöse Leben der Kirche und Öffentlichkeit hineintragen.

c. Die Aufgabe gegenüber den sozialistischen Parteien

Innerhalb der sozialistischen Parteien sucht die Bewegung zunächst alle zu sammeln, denen religiöse Haltung zu den Notwendigkeiten des Lebens zu gehören scheint. Den religiösen Sozialisten scheint es notwendig, daß alle wirtschaftlichen und politischen Probleme durchdacht werden im Lichte stärksten Bewußtseins der unbedingt-revolutionären Haltung, die der Sozialismus gegenüber der gegenwärtigen Gesellschaft einnehmen muß. Wo aus taktischen Gründen Kompromisse nötig sind, darf doch der unbedingte Widerspruch gegen das Bestehende nie vergessen werden. Zugleich aber will die Bewegung der religiösen Sozialisten klar herausarbeiten, daß revolutionäre Haltung und Gesinnung nichts zu tun haben mit dem einfachen Glauben an Gewalt, äußere Macht, Organisation. Gerade dieser Glaube hemmt das innere Umdenken und Sichneueinstellen der Menschen, der Staatsmänner, der Wirtschaftsorganisationen, der Massen, in dem allein der Weg zur Zukunft liegt. Diese Arbeit an der Klärung wahrhaft revolutionärer Haltung und Politik innerhalb der sozialistischen Bewegung erscheint als die eigentlich entscheidende Arbeit der Bewegung. Hier arbeitet sie an dem großen Werk der Zukunft aus religiösem Geist mehr als in Kirchenpolitik und rein religiöser Sammlung der Menschen.

Diese Haltung bedingt, daß die religiösen Sozialisten nicht einfach auf eine proletarische Partei und deren Politik eingeschworen sind. Sie fordern von ihren Mitgliedern, daß sie sich an dem Platz in die Arbeit der proletarischen Bewegung einstellen, wo es ihnen gewissensmäßig notwendig scheint. Die Mitglieder aber haben das Recht, sich diesen Platz selbst zu wählen, sei es in einer der sozialistischen oder der kommunistischen Partei. Es gibt auch Mitglieder, die sich aus irgendeinem Gewissensgrund keiner der bestehenden Parteien anschließen können und ihre Kraft in anderer Weise dem Proletariat dienstbar machen. Da die kommunistische Partei bis jetzt ihren Mitgliedern verboten hat, dem Bund religiöser Sozialisten anzugehören, ist es nicht verwunderlich, daß die weitaus größte Zahl der Mitglieder zur SPD stehen. In irgendeiner Abhängigkeit von einer Partei steht der Bund religiöser Sozialisten nicht.

Es besteht sogar zwischen dem Bund religiöser Sozialisten und sämtlichen proletarischen Parteien eine gewisse Spannung. Diese tritt zunächst äußerlich darin hervor, daß die Bewegung der religiösen Sozialisten die geistige Haltung der proletarischen Bewegung an entscheidenden Punkten als ungenügend fundiert empfindet. Man glaubt, daß sie sich selbst nicht genügend tief verstanden hat, infolgedessen aber auch den Einzelproblemen des Tages gegenüber sowohl in Politik, als in der Wirtschaft, als ganz besonders in den Fragen der ethischen Gesellschaftsneugestaltung nicht die Stellung finden kann, die einheitlich zwingend für weiteste Kreise wirken könnte. In der Politik wäre hier z. B. die Frage der Gewaltanwendung zu nennen, sowohl im Kampf der Völker als der Klassen, die Frage der internationalen Völkerverständigung wie der Abrüstung. Im Wirtschaftsleben gehört hierher die Frage der dem Arbeiter vom Kapitalismus anerzogenen kapitalistischen Gesinnung - die Frage des Verständnisses für die seelische und wirtschaftliche Lage der andern Stände, die für die Arbeit an der Zukunftsgestaltung in Betracht kämen (Kleinbauern, Angestellte, Beamte). In der Frage der ethischen Gesellschaftsneugestaltung wäre die Behandlung der sexuellen Frage, der Ehe, der Familie, die Frage der Gestaltung der Vergnügungen, des Alkohols, usw. zu nennen. Es sind hier starke Bewegungen auch außerhalb der religiösen Sozialisten zu verzeichnen, die innerhalb der proletarischen Bewegung ein ernstes Anfassen dieser Fragen fordern. Die Gesamtbewegung hat ihre Bedeutung noch nicht deutlich genug - unserer Meinung nach - erkannt.

d. Religiöse Sozialisten und Marxismus

Dies hängt zusammen mit dem, was man den Vulgärmarxismus nennt. Unter dem Einfluß eines oberflächlichen, vom liberalen Bürgertum übernommenen Fortschrittsglauben, der naturwissenschaftlichen Aufklärung der Zeit von 1870 und 1880 hat man die Gedanken von Karl Marx zu einer Gesamtweltanschauung ausgebaut, in der man allen Problemen eine dem guten aufgeklärten Menschen behagliche Lösung gegeben hat, in der man aber auch alle die großen sittlichen Entscheidungsforderungen, die der Sozialismus an die Menschen stellen muß, abschwächte, die große Frage der intellektuell-ernsthaften Weiterbildung zu einer oberflächlichen Annahme dieser weltanschaulichen Dogmen verflachte. Wiederum sind die religiösen Sozialisten hier die Bundesgenossen all der wichtigen Bewegungen im Sozialismus, die über diesen Zustand hinausdrängen. Hier teilt sich die Bewegung in zwei Lager. Im einen Lager, das am stärksten in der außerdeutschen Bewegung seine Vertreter hat, hält man den Marxismus als solchen für die Gefahr. Er sei es, der die entscheidende Vertiefung und das ganz klare Verstehen sozialistischer Notwendigkeiten verhindere. In der Schweiz, in Holland, England vor allem sind diese Gedanken vertreten. Ein Jean Jaurès und die Träger der englischen sozialistischen Bewegung werden hier als das große Vorbild starker, klarer sozialistischer Haltung gesehen. Dagegen sieht der religiöse Sozialismus in Deutschland in Karl Marx und seinen Gedanken gewaltige Werte. Karl Marx hat zum ersten Male die Geschichte der Menschheit unter dem Gesichtspunkt der Masse gesehen. So hat er die Bedeutung der wirtschaftlichen Gewalten und Gestaltungen für deren Leben und geistig-seelisches Sein betont. Wenn er zeigt, daß die geistige Haltung und Urteilsweise der Menschen, bis zur Religion, herausgeboren werde aus den wirtschaftlichen Notwendigkeiten, so gilt hier auch die Umkehrung, daß für die Masse nur das vom geistigen Leben, sittlichen Urteilen und religiösen Glauben wirklich Kraft hat, was in die gesellschaftlichen Gestaltungen wirklich als strukturelle Grundlage eingegangen ist. Sobald Religion und Sittlichkeit keine Gestaltungsmächte der wirtschaftlichen Grundlagen der Gesellschaft mehr sind, sind sie für die Masse nicht mehr da. Die religiösen Sozialisten fordern von den Kirchen, daß sie diese Wahrheiten von Karl Marx erkennen. Und wenn Karl Marx in den Gedanken des Klassenkampfes, der Verelendungstheorie*7), des Klassengegensatzes, in der Feststellung, daß die Menschheit nicht durch Vernunft, Liebe und Gewissen, sondern in bittersten Interessenkämpfen ihr Schicksal gestaltet, die ganze furchtbare Verhaftung der Menschheit in Schuld und Leidenschaft aufzeigt, sollten Kirchen und Christen davor nicht entsetzt die Augen schließen oder furchtsam abwehren. Hier gilt es, verantwortungsbewußt zu prüfen, ob die Tatsachen wirklich so furchtbar sind, ob die alte Lehre von Sünden- und Schuldverflochtenheit des Menschen nicht vielleicht einen viel gewaltigeren Sinn hat, als man lange ahnte. Es gilt, von da aus das Gewissen zu wecken, die Seele erschüttern zu lassen. So vertritt der deutsche religiöse Sozialismus den Gedanken, daß Karl Marx ein Führer zur Wirklichkeit ist, aus deren furchtloser Erkenntnis religiöse Erschütterung, christliche Frömmigkeit mit neuer Gewalt hervorbricht und in ganz anders gewaltiger Größe und Tiefe gegeben wird.

e. Religiöse Sozialisten und Freidenker

An diesem Punkte steht der religiöse Sozialismus klar und deutlich den proletarischen Freidenkern gegenüber. Nicht in dem Sinne, als ob er sich geschieden fühlte von den vielen verantwortungsbewußten Menschen in ihrem Lager, die auf ihre Weise eine geistige Neubegründung der Gesellschaft suchen. Aber in dem Sinne, daß er glaubt, sie schätzen die Bedeutung dessen, was im religiösen Leben und vor allem in der von Jesus ausgehenden Frömmigkeit der Menschheit geschenkt ist, falsch ein. Sie sehen über der Tatsache, daß die Kirchen diese Überlieferung nur in einer verbürgerlichten Form haben, nicht mehr das andere, daß in dieser religiösen Überlieferung eine ungeheure revolutionäre Kraft für die Gesellschaft ruht und eine unendlich gewaltige Gestaltungskraft dessen, was neu werden will. Er glaubt auch, daß sie über dem, was Karl Marx in ähnlicher Weise falsch sehen mußte, das nicht sehen, was in Karl Marx zu einer viel tieferen, neuen Auffassung und Stellung zur Religion drängt, als er selbst sie fand.

Den Kirchen gegenüber glauben die religiösen Sozialisten die zu sein, die sie zu der Erneuerung ihres Lebens und ihrer Botschaft rufen, die notwendig ist, damit die Gewalt des Religiösen in der Gesellschaft wieder aufbricht. - Der sozialistisch-proletarischen Bewegung gegenüber glauben sie, die Aufgabe zu haben, zum Durchdenken ihrer Fragen und Haltung im Lichte einer Auffassung des Lebens und der Wirklichkeit drängen zu müssen, in der allein das deutlich wird, was wahrhafte, aus dem Geist geborene Beherrschung der Wirklichkeit ermöglicht.

10. Literatur

Hermann Kutter: Sie müssen, ein offenes Wort an die christliche Gesellschaft (1904); Gerechtigkeit, ein altes Wort an die moderne Christenheit (1905); Wir Pfarrer (1907).

Leonhard Ragaz: Dein Reich komme. Predigten (2 Bde., 1908, 1910); Pädagogische Revolution; Sozialismus und Gewalt; Der Kampf um das Reich Gottes in Blumhardt; Vater und Sohn; Weltreich, Religion und Gottesherrschaft (2 Bde., 1922); Von Christus zu Marx - Von Marx zu Christus (1930).

Georg Wünsch: Evangelische Wirtschaftsethik (Tübingen 1927).

Paul Tillich: Masse und Geist (1929); Die religiöse Lage der Gegenwart (1925); Protestantisches Prinzip und proletarische Situation (1931).

Gustav Radbruch und Paul Tillich: Über die Idee einer Theologie der Kultur (Vorträge der Kant-Gesellschaft (1921).
Paul Piechowski: Proletarischer Glaube (1927).

Gertrud Hermes: Die geistige Gestalt des marxistischen Arbeiters (1926).

Günther Dehn: Die religiöse Gedankenwelt der Proletarierjugend (1923), 2. Aufl. 1930.
Reich Gottes, Marxismus, Nationalsozialismus. Ein Bekenntnis religiöser Sozialisten, hrsg. von Georg Wünsch (Vorträge von Ragaz, Wünsch, Kappes 1931).

Emil Fuchs: Predigten eines religiösen Sozialisten (1928).

G. Schenkel: Das Doppelgesicht des Christentums (1930).

Karl Mennicke: Proletariat und Volkskirche (Jena 1926); Der Sozialismus als Bewegung und als Aufgabe (1921); Das Problem der sittlichen Idee im marxistischen Denken der Gegenwart (1928).

Sozialismus aus dem Glauben. Verhandlungen der sozialistischen Tagung in Heppenheim a. d. B. (1928, Zürich-Leipzig).

Henriette Roland-Holst van der Schalken: Der Weg zur Einheit (1929).

Paul Passy: Christianisme et Socialisme (1910); Souvenirs d‘un Socialiste chrétien (1930).

W. Banning: Jaurès als Denker (Arnhem 1931).

Flugschriften des Bundes Religiöser Sozialisten (Verlag des Bundes Religiöser Sozialisten, Mannheim):

1.       Eckert: Was wollen die religiösen Sozialisten?
2.       Dietrich: Wie es zum Bunde religiöser Sozialisten kam.
3.       Dietz: Das heilige Eigentum und die Enzyklika Leos XIII.
4.       Predigten sozialistischer Pfarrer.
5.       Piechowski: Die Seele des Proletariats.
6.       Dietz: Wilhelm Hohoff und der Bund katholischer Sozialisten.
7.       Wünsch: Christliche Sittlichkeit und sozialistische Wirtschaft.
8.       Dietz: Das religiöse Problem des Marxismus.
9.       Piechowski: Feierklänge.
10.     Kohlstock: Unschuldig verurteilt.
11.     Dietz: Die Staatsauffassung von Marx und Engels.
12.     Fuchs: Von Naumann zu den religiösen Sozialisten.
13.     Schwartze: Der Kampf um die Volkskirche in Lippe.

in: Ludwig Heyde (Hrsg.): Internationales Handwörterbuch des Gewerkschaftswesens, Bd. 2, Berlin 1932, S. 1323-1331; Mit einem Vorwort zum Nachdruck neu herausgegeben von Thilo Ramm, Keip Verlag, Frankfurt/Main 1992.

Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Inhabers der Urheberrechte Professor Dr. Klaus Fuchs-Kittowski, Berlin.

*1) Hier teilt Fuchs das weitverbreitete Fehlurteil, daß Karl Marx eine Verelendungstheorie entwickelt habe. Siehe Wolfgang Abendroth: Aufstieg und Krise.

*2) Diese Passage läßt den Zeitpunkt der Abfassung dieses Lexikonartikels erkennen. Er muß zwischen dem 3. und 18. Oktober 1931 geschrieben worden sein. Das Lexikon erschien 1932.

*3) Schriftleiter des Bundesorgans war vom 1.1.1926 bis 18.10.1931 Erwin Eckert. Vom 18.10.1931 bis 12. März 1933 war Pfarrer Gotthilf Schenkel Schriftleiter.

*4)Der Gründungskongress 1926 in Meersburg wird nicht erwähnt.

*5) Eckert trat einen Tag vor seiner definitiven, unehrenhaften Entlassung aus dem Badischen Kirchendienst am 10.12.1931 aus dem Bund aus. Die Schriftleitung hatte Schenkel bereits seit dem 18. Oktober 1931 inne.

*6) Die pauschale Kennzeichnung Eckerts als “Pietist” ist anfechtbar..

*7) Siehe Wolfgang Abendroth, Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung, 14. Aufl., Frankfurt/M. 1984; ders.; Aufstieg und Krise der deutschen Sozialdemokratie, 4. Aufl, Köln 1978; siehe auch Friedrich-Martin Balzer(Hg.): Wolfgang Abendroth für Einsteiger und Fortgeschrittene, CD ROM, Bonn 2001.

   

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1. „Zur Mentalitätsgeschichte akademischer Mittelschichten zwischen den Weltkriegen Korporationen in der Weimarer Republik - unter besonderer Berücksichtigung des Wingolf am 13. Dezember 1961 vor dem Clausthaler Wingolf zu Marburg“
2. Vortrag Wolfgang Abendroth


„Zur Mentalitätsgeschichte akademischer Mittelschichten zwischen den Weltkriegen Korporationen in der Weimarer Republik - unter besonderer Berücksichtigung des Wingolf am 13. Dezember 1961 vor dem Clausthaler Wingolf zu Marburg“

Vorbemerkungen von Friedrich-Martin Balzer

Als ich mich im Februar 1961 anschickte, Robert Neumann zu einer Vortrags- und Diskussionsveranstaltung ins Marburger Audi Max einzuladen, kannte ich Wolfgang Abendroth noch nicht.*1) Ich war 20 Jahre alt und Student im 2. Semester. Veranstalter war der Clausthaler Wingolf, dem ich im April 1960 beigetreten war, obwohl ich zu dieser Zeit schon Ostermarsch-Teilnehmer war. Wie war es dazu gekommen? Das Verbindungshaus lag weit ab von den alt-elitären, ehrwürdigen Verbindungshäusern in der Lutherstraße in Marburg, auch weit ab von „Arminen“ und „Hasso-Borussen“ und dem Korps „Hasso-Westphalia“. Es lag inmitten einer Schrebergartenlandschaft und hatte mehr vom Charme eines AWO-Freizeitheimes als von einem ehrwürdigen Verbindungshaus mit Butzenscheibenromantik. Es lag nicht weit von Abendroths bescheidenem Häuschen in der Wilhelm-Roser-Straße, wo ansonsten alte und neue Nazis in ihren Villen wohnten. Die Aktiven der Verbindung waren, wie ich mich bei meinem Austritt aus der Verbindung 5 Jahre später*2) erinnerte, eher links orientiert. Es gab während meiner aktiven Zeit zahlreiche Sozialdemokraten, einige DFU-Anhänger und mehr als nur einen Ostermarschierer. Wenn das Bundeslied des Wingolf gesungen wurde „Es hält auf seinen Zinnen das Kreuz getreulich Wacht, drum wohnt sich’s traulich drinnen, ob’s draußen stürmt und kracht“, so kam mir das nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich anachronistisch und unsinnig vor. Mein Vater, mein Bruder und mein Schwager waren Wingolfiten. Und obwohl ich selbst von theologischen Vorstellungen schon damals nichts mehr hielt*3), war ich trotz hinhaltendem Widerstand der Argumentation beim „Keilen“ erlegen, als mir eine Couleurdame erwiderte, dann sollte ich doch auch aus der Kirche austreten. Soweit war ich damals noch nicht - als Sohn des Pfarrers der Bekennenden Kirche, dem die Kirche nach 1945 übel mitgespielt hatte.

Ein Jahr zuvor war ich mit einigen wenigen Klassenkameraden nur knapp dem angedrohten Entzug der „sittlichen Reife“ entgangen. Wir hatten es gewagt, unsere Kritik an den Unterrichtsinhalten und den sie vermittelnden Lehrern, die „zur Wiederverwendung“ auf Grund des Artikels 131 des Grundgesetzes nach 1945 als NAPOLA-Lehrer und SA-Sturmbannführer in den öffentlichen Dienst wieder eingestellt worden waren, auch in der Abiturzeitung zu äußern. Wir ahnten noch nicht, welchen Lebensnerv des antidemokratischen und antirevolutionären Grundgesetzes*4) wir damit getroffen hatten. Wir hatten unsere ehemaligen Pgs Selbstverteidigungsreden vor imaginären Entnazifizierungsausschüssen halten und ihre „Braunnessel“, „Hab-nichts-gewußt“ und andere Narkotika täglich drei bis vier Tropfen auf dem Unterrichtsplan des Schulalltags erscheinen lassen. Angesichts der Drohung, uns das Abitur abzuerkennen, wenn wir die Abiturzeitung nicht verbrennen würden, gaben wir zwar noch klein bei. In meiner Abiturrede aus dem Jahre 1960*5) ließ ich jedoch keinen Zweifel daran, daß wir uns von dieser Sorte von Lehrern nicht für die Zukunft untauglich, weil gefügig machen lassen wollten.

Unmittelbar vorausgegangen der Einladung an Robert Neumann war der in beiden deutschen Staaten Aufsehen erregende Besuch des DDR-Volkskammerpräsidenten Johannes Dieckmann in Marburg. Einer meiner Klassenkameraden war nach dem Abitur Vorsitzender des LSD in Bonn geworden. So nahm ich mit ihm an der LSD-Veranstaltung mit Johannes Dieckmann im Saale teil, während draußen eine riesige Studenten- und Bürgerdemonstration mit den Rufen „Dieckmann raus - hängt ihn auf!“*6) gegen den Besuch von Johannes Dieckmann in Marburg protestierte. Eine winzige Minderheit von Studenten – unter ihnen mein späterer Kollege und Freund, der Abendrothschüler Helge Speith - hatte allerdings die Courage, mit dem Plakat „Schlamm willkommen - Dieckmann unerwünscht“*7) inmitten der vom Kalten Krieg hysterisierten Menge von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch zu machen. Es war die Zeit, „in der auch für die Brandts und Bahrs die DDR noch ‘rechtlich nicht existent’ und eine Ausgeburt des Teufels war“.*8) Zu den Demonstranten gehörte auch der spätere, langjährige DKP-Kreisvorsitzende von Marburg-Biedenkopf. Die Scheidung der Geister war zwar schon im Gange. Es dauerte aber noch, bis in der Studentenbewegung die Nonkonformisten eine breitere Basis für sich und ihre Positionen erkämpfen konnten, bis der Prozeß der Sezession von bürgerlichem Denken sich in einen Prozeß der Assoziation zu marxistischen Denken und Handeln verwandelt hatte.

Vergeblich hatte ich etwa 15 Professoren gebeten, die Diskussionsleitung bei der Veranstaltung mit dem Thema „Was geht uns Eichmann an? Ausflüchte unseres Gewissens“*9) zu übernehmen. Jeder empfahl einen anderen Kollegen. Allen war das Thema zu heiß. Alle waren gebrannte Kinder. „Gehen Sie doch zu dem Professor K. Der war im KZ“. Aber auch der Professor K. sagte ab, nachdem er in den bei Kurt Desch erschienenen Bildband von Robert Neumann über „Hitler, Aufstieg und Untergang des Dritten Reiches“ eingesehen hatte. Keiner empfahl den seit 1951 in Marburg lehrenden Professor für wissenschaftliche Politik Wolfgang Abendroth. Schließlich, nachdem ich von Pontius zu Pilatus gelaufen war, mußte ich mit einem „alten Herren“ vom Marburger Wingolf, Kirchenrat und Dekan Karl Bernhard Ritter - Bruder des Historikers Gerhard Ritter -, der in der Weimarer Republik Landtagsabgeordneter der DNVP gewesen war und dessen Kriegspredigten in der Marburger Universitätskirche einen Einblick geben in den angeblichen antifaschistischen Widerstand der „Bekennenden Kirche“ gegen das „Dritte Reich“*10), vorlieb nehmen. Uneingeladen erschienen Professor Abendroth, der Antifaschist und „weiße Rabe“ der postfaschistischen akademischen Nachkriegsgesellschaft in der BRD, und seine Frau, die Historikerin Dr. Lisa Abendroth - die als Zeitzeugin eindringlich von ihren Erinnerungen an den Brand der Marburger Synagoge im Jahre 1938 berichtete. Sie und ihr Mann meldeten sich mit zahlreichen Diskussionsbeiträgen auch zur damaligen aktuellen politischen Lage auf der vom NDR mitgeschnittenen und später ausgestrahlten Sendung engagiert zu Wort und trugen so zur Wendung der Masse der Studenten zu kritischem und antifaschistischem Denken, das erst im Entstehen war, nachhaltig bei. Eröffnet worden war die überfüllte Veranstaltung mit etwa 700 Studenten im Marburger Audi Max von dem Prorektor der Universität, Professor Reinhard, von dem sich inzwischen herausgestellt hat, daß er förderndes Mitglied der SS gewesen war. Abendroth war für mich die große Entdeckung bei dieser Veranstaltung. Es war Nähe und Vertrautheit auf den ersten Blick. Ich empfand, daß er wie kaum ein anderer nachher in der Lage war, auf viele selbst-gestellte Fragen und nicht selbst-gestellte Fragen, Antworten zu geben bzw. selbst Fragen zu stellen, die weiterführten. Und so war es kein Wunder, daß ich ihn noch im gleichen Jahr auf das Verbindungshaus einlud, nachdem ich ihm die vertraulichen Rundbriefe des Wingolf aus den Jahren 1932 bis 1936*11) zur Verfügung gestellt hatte.

Die Veranstaltung am 13. Dezember 1961 begann verspätet, weil Abendroth von einer sich länger hinziehenden Fakultätssitzung kam, auf der er seinen ersten Schüler, Jürgen Habermas*12), habilitiert hatte. Nach meinen einleitenden Bemerkungen und Abendroths Vortrag dauerte die Diskussion bis Mitternacht und hinterließ nicht nur bei mir einen bleibenden Eindruck. Im Wintersemester 1962/1963 wechselte ich das Studienfach von Germanistik zur wissenschaftlichen Politik bei Professor Abendroth und legte 1972 - nach der Referendarausbildung und dem Beginn meiner Unterrichtstätigkeit an der Steinmühle - als einer der letzten Doktoranden bei Professor Abendroth meine Dissertation über „Erwin Eckert und den Bund der Religiösen Sozialisten Deutschlands“ *13) vor. Das Thema, das Abendroth mit dieser Dissertation angestoßen hatte, hat mich seither nicht mehr losgelassen. *14)

Abendroth selbst wird diese Veranstaltung beim Clausthaler Wingolf - nicht nur wegen der am gleichen Tage erfolgten Habilitation von Jürgen Habermas“ - anders in Erinnerung behalten haben. Er war lange Zeit in der Universität isoliert gewesen. Wie Georg Fülberth in einem Nachruf auf Abendroth schrieb, war er „für die Mehrheit seiner Kollegen und ihre Familien [...] schlicht der ‘Zuchthäusler’, nicht so sehr ein (sozusagen satisfaktionsfähiger) Gegner als ein - wie er es selbst charakterisierte - ‘Outcast’“. Seinen Tiefpunkt hatte seine lokale Isolierung just zu dem Zeitpunkt erreicht, als er wegen seiner Weigerung, den Unvereinbarkeitsbeschluß von SPD und SDS mitzutragen, aus der SPD ausgeschlossen und vom Clausthaler Wingolf zu einem Vortrag eingeladen wurde. „Daß er Mitglied der hessischen Regierungspartei war, hatte ihn bei seinen konservativen Kollegen zwar auch nicht beliebter gemacht, aber nach ihrer ganzen autoritären Denkungsart hielt es sie noch zu einer gewissen Minimalvorsicht an, die sie jetzt ebenfalls nicht zu beachten brauchten“. Aus dieser Situation holte ihn, den marxistischen Gesellschaftswissenschaftler und Historiker der Arbeiterbewegung*15) erst die Studentenbewegung wieder heraus, der er selbst nachhaltige Impulse vermittelt hatte. Nicht trotz des Einflusses von Abendroth auf die traditionalistisch-orientierte Studentenbewegung und ihre Heranführung an marxistisches Denken, sondern gerade wegen dieses Einflusses muß es dann der zeitweilige Oberbürgermeister und spätere Ministerpräsident von Hessen, Walter Wallmann, von Beruf Richter, es für den immer noch währenden Zeitgeist entsprechend gehalten haben, sich in der Lokalpresse mit dem Hochverratsurteil gegen Professor Abendroth aus dem Jahre 1937 zu identifizieren. Fülberth schließt seinen Nachruf mit den Worten: „Bereits 1961 lud ihn erstmals eine farbentragende Verbindung in Marburg zu einem Vortrag über die Geschichte des Korporationswesens ein.“*16)


*1) Die am 5. Juli 1961 in Marburg beginnende Serie von Tonbandgesprächen zwischen der Philipps-Universität Marburg und der Humboldt-Universität in Berlin (DDR) kam zu einer Zeit zustande, „als so etwas noch von allen großen Parteien, auch der SPD, ‘illegal’ und ‘würdelos’ genannt wurde“ (Wolfgang Abendroth in seinem Nachruf auf Robert Neumann in: Konkret 2/1975, S.43) und ist inzwischen dokumentiert und kommentiert in: Reinhard Hübsch / Friedrich-Martin Balzer (Hrsg.) „Operation Mauerdurchlöcherung“, Robert Neumann und der deutsch-deutsche Dialog. Bonn 1994. Der Band enthält u. a. Beiträge von Wolfgang Abendroth, Johannes Dieckmann, Wilhelm Girnus, Johannes Gross, Wieland Herzfelde, Reinhard Hübsch, Heinz Kamnitzer, Reinhard Kühnl, Robert Neumann und Manfred Weißbecker. Der irreführende Titel geht zurück auf die Überschrift eines Aufsatzes von Robert Neumann, in dem er über die Tonbandgespräche im Zeitraum von 1961 bis 1964 berichtete. Siehe DIE ZEIT vom 29. Mai 1964.

*2) Zur Begründung des Austritts führte ich u.a. an: „Solange bei feierlichen Kommersen der deutschen Soldaten des 2. Weltkriegs feierlich gedacht wird, so als hätten sie das Vaterland verteidigt, solange Reden auf das ‘Vaterland’ gehalten werden, deren Funktion, nicht unbedingt deren Intention es ist, Mittel des Kalten Krieges zwischen beiden deutschen Staaten zu sein, ist es besser, diese institutionelle Erstarrung zu beseitigen oder, wenn dies nicht gelingt, die Erfolglosigkeit eines solchen Unterfangens einzusehen und die Konsequenzen des Austritts zu ziehen.“ Brief vom 20.12.1965.

*3) Als Pfarrerssohn hatte ich mich schon während der Schulzeit in dem Streit zwischen Gerhard Szczesny und Friedrich Herr auf die Seite von Szczesny geschlagen, ohne allerdings dem katholischen Linksintellektuellen Friedrich Heer meinen Respekt zu versagen. Siehe: Friedrich Heer/Gerhard Szczesny, Glaube und Unglaube, Ein Briefwechsel, München 1959. Als Konsequenz trat ich noch während meiner Zeit als Wingolfit der Humanistischen Studentenunion (HSU) bei, in der ich mit Anselm Neusüß und Joachim Kahl zusammentraf, bevor ich 1965 einen Antrag auf Aufnahme in den SDS stellte.

*4) Zu dieser Denkrichtung hat nicht nur Wolfgang Abendroth (von 1951 bis 1972 Professor für wissenschaftliche Politik an der Universität Marburg), sondern vor allem der Gießener Staatsrechtler und Leitfigur der demokratischen Bewegung in der BRD, Professor Helmut Ridder, beigetragen.

*5) Die Rede „Wider die resignative Vernünftigkeit“ ist abgedruckt in: Es wechseln die Zeiten...“ Reden, Aufsätze, Vorträge, Briefe eines 68ers aus vier Jahrzehnten (1958-1998). Mit einem Geleitwort von Manfred Weißbecker, Bonn 1998.

*6) Der Besuch des DDR-Volkskammerpräsidenten Johannes Dieckmann am 13. Januar 1961 in Marburg ist dokumentiert und kommentiert in: Reinhard Hübsch „Dieckmann raus - Hängt ihn auf!“, Bonn 1995

*7) ebd. Das Bild ist abgedruckt auf S. 121. Das Plakat spielt auf den jüdischen Kalten Krieger William S. Schlamm an. Es hätte sich aber ebenso auf den Göttinger Historiker Percy S. Schlamm beziehen können, der mit seinem SPIEGEL-Beitrag zu Hitler seinen Teil zur Entlastung einer ganzen Generation beigesteuert hatte.

*8) Wolfgang Abendroth, Robert Neumann, in: konkret 2/1975, S. 43

*9) Der Untertitel bezieht sich auf die Rundfunkserie von Robert Neumann 1959/60 und ist dokumentiert in: Robert Neumann, Ausflüchte unseres Gewissens, Dokumente zu Hitlers „Endlösung der Judenfrage“ mit Kommentar und Bilanz der politischen Situation. Hannover 1960. Siehe auch den Bildband „Hitler, Aufstieg und Untergang des Dritten Reiches. Ein Dokument von Robert Neumann. Unter Mitarbeit von Helga Koppel, München 1961.

*10) Die zwischen dem 27. August 1939 und dem 20. Juni 1940 gehaltenen Kriegspredigten sind veröffentlicht unter dem Titel Karl Bernhard Ritter, Wir haben eine Hoffnung, Kassel o.J.; Karl Bernhard Ritter, Verwandlung des Lebens, Kassel o.J.

*11) Diese Rundbriefe dienten inzwischen Eva Gottschaldt , PDS-Abgeordnete im Marburger Stadtparlament, für ihre Untersuchung „Das ist die Tat unseres herrlichen Führers“. Die christlichen Studentenverbindungen Wingolf und der Nationalsozialismus. Hrsg.: Projekt Konservatismus und Wissenschaft e.V. und der Marburger Geschichtswerkstatt e.V., Marburger Beiträge zur Geschichte und Gegenwart studentischer Verbindungen, Bd. 4, Marburg 1997. Siehe auch den Beitrag von Eva Gottschaldt „‘Wir grüßen die Fahne des Hakenkreuzes!’ - Die christlichen Studentenverbindungen Wingolf und der Nationalsozialismus“ in der Festschrift zum 60. Geburtstag von Reinhard Kühnl, hrsg. von Frank Deppe, Georg Fülberth und Rainer Rilling, Antifaschismus, Heilbronn 1996, S. 108-120.

*12) Siehe den Beitrag von Jürgen Habermas zum 60. Geburtstag von Wolfgang Abendroth „Partisanenprofessor im Lande der Mitläufer. Der Marburger Ordinarius Wolfgang Abendroth wird am 2. Mai sechzig Jahre alt“, in: DIE ZEIT vom 29.4.1966. Siehe auch den Brief von Jürgen Habermas an den Verfasser vom 26. November 1966, in dem Habermas auf seine Haltung bei der Befragung durch die Enquete-Kommission hinweist.

*13) Friedrich-Martin Balzer, Klassengegensätze in der Kirche. Erwin Eckert und der Bund der Religiösen Sozialisten. Mit einem Vorwort von Wolfgang Abendroth, Bonn 1993, 3. Auflage.

*14) In Vorbereitung befindet sich ein Quellenband mit dem Arbeitstitel: Erwin Eckert /Emil Fuchs: Blick in den Abgrund. Das Ende der Weimarer Republik im Spiegel zeitgenössischer Berichte. Herausgegeben von Friedrich-Martin Balzer und Manfred Weißbecker, mit Nachbetrachtungen von Hans Manfred Bock, Georg Fülberth, Reinhard Kühnl, Gert Meyer und Kurt Pätzold. Erscheinungstermin: Januar 2002.

*15) Siehe den Beitrag von Hans Heinz Holz über den Marxisten Wolfgang Abendroth, der viel für die Berufung des ersten marxistischen Wirtschaftswissenschaftlers Werner Hofmann und des ersten marxistischen Philosophen Hans Heinz Holz an die Marburger Universität beigetragen hat, in dieser Zeitschrift: Hans Heinz Holz, Wolfgang Abendroth - Demokratie als Sozialismus - Wolfgang Abendroth - Demokratie als Sozialismus, in: TOPOS, Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie, Heft Demokratie, Bonn 1993, S. 99-110.

*16) Siehe Georg Fülberth, Schwieriger Übergang, in: Sozialismus, November 1985, S. 29f. Das ganze Hefte der Zeitschrift ist nach dem Tode von Wolfgang Abendroth diesem gewidmet.


2. Vortrag Wolfgang Abendroth*1)

Wenn wir die Situation des Korporationsstudententums in der Weimarer Republik analysieren wollen, nicht nur die Situation der Waffenstudenten, sondern auch Ihre, dann müssen wir davon ausgehen, daß das Korporationsstudententum dieser Periode in bestimmten sozialen Bindungen gestanden hat, ganz ohne Zweifel, und in bestimmten politisch-ideologischen Bindungen, die ganz einfach durch die damaligen sozialen Positionen der Herkunftsschichten dieses Korporationsstudententums bestimmt gewesen sind.

Gerade diese Überlegung hilft uns übrigens, von billiger und im Grunde gleichgültiger, sozusagen moralisch-ethischer Bewertung der Fakten zur realen politisch-soziologischen Bewertung der Fakten zu kommen, die keineswegs nun moralische und ethische Komponenten ausschließt, sondern durchaus einschließt, aber dabei durchaus weiß, daß die damals, wie ich Ihnen zeigen werde, durchaus verfehlte Verantwortung der damaligen Korporationsstudenten und auch die Ihres Verbandes durch Komponenten politisch-soziologischer Art mitbestimmt war, die zu durchbrechen wahrscheinlich eine übermenschliche Aufgabe bedeutet hätte.

Denn Sie müssen sich darüber klar werden: Als die Weimarer Republik und damit die erste längere Zeit funktionierende Demokratie in Deutschland entstand, da entstand sie aus dem Ringen einer bestimmten, sehr genau definierbaren sozialen Klasse, der Arbeiterklasse, gegen die Identifikation von monarchisch obrigkeitsstaatlicher Gestaltung des politischen Lebens und sozialer Verbundenheit nicht nur der obersten Oberschichten, sondern sehr breiter Oberschichten der damaligen Zeit mit diesem politischen System: Aus einer Identifikation heraus, die die erstaunlichsten politischen Konsequenzen, wenn man sich sozusagen als Beobachter aus fernen Zeiten die Dinge ansieht, gehabt hatte und vielleicht auch haben mußte.

Ein Verband wie der Ihre war ja keineswegs allein dadurch bestimmt, daß er sich als Korporation, als studentische Korporation wußte, sondern war ebenso bestimmt durch die, wie sich zeigen wird, zu einer bloßen Mentalitätsform abgesunkene protestantisch-christliche Bindung des Verbandes. Dabei dürfen Sie nicht vergessen, daß bereits vor dem 1. Weltkrieg, dann aber betont durch die emotionale Erfassung breitester Schichten des deutschen Volkes zugunsten einer solchen Konzeption im 1. Weltkrieg, sich das deutsche nationalstaatliche Bewußtsein, wie es nur durch die Ober- und Mittelklassen, nicht durch die dagegen opponierende Arbeiterklasse, wenigstens nicht durch ihren politischen Kern, getragen war, sich dahin gewandelt hatte, und zwar sehr deutlich, wir könnten das in Schichten verfolgen, seit dem Ende der 70er Jahre, daß man die frühere nationalstaatliche Konzeption noch - sei es belastet, sei es befruchtet - durch die Problematik und noch die Aufgabe der Begründung eigener Nationalstaatlichkeit bis zum Zusammenschluß des Norddeutschen Bundes mit den süddeutschen Ländern vor sich hatte, daß dies nationalstaatliche Bewußtsein nun umgeschlagen war in ein nationales Sendungsbewußtsein, das sich sehr bald mit sehr handfesten und realen ökonomischen Interessen einer sehr engen Oberschicht, eines sehr engen Teils der Oberschicht, nämlich in Wirklichkeit der Spitzenschichten, nicht des liberalen, sondern des organisierten Kapitalismus, zur Weltmachtpolitik imperialistischer Art verschmolzen hatte, wobei nun diese Weltmachtpolitik sozusagen sich ideologisch überformte in einer aggressiv nationalistischen Gesinnung, die mit dem Begriff des Nationalismus und des nationalstaatlichen Denkens, wie es einst im Zeitalter der bürgerlichen Revolution entstanden war und seine Bedeutung, auch seine progressive Bedeutung, hatte, im Grunde nichts mehr gemein hatte außer der Identifikation mit bloßen Phrasen.

Wie stark dieser Drall in Richtung des aggressiven Imperialismus, identifiziert mit der Anbetung der obrigkeitsstaatlichen monarchischen Struktur des Staates, geworden war, dafür haben wir jetzt in einer neueren historischen Arbeit, weit über die ausgezeichneten Untersuchungen Hallgartens in seinem Buch über den deutschen Imperialismus vor 1914 hinaus, einen klassischen Beleg, nämlich in dem Buch Fritz Fischers, des Hamburger Historikers Fritz Fischer über diesen Umschlag und über die Kriegszielpolitik Deutschlands in der allerersten Phase seines ersten großen imperialistischen Raubkrieges, nämlich des Krieges von 1914.

Wohlgemerkt, diese Identifikation war im Zeitalter der Transformation des Bewußtseins der früher demokratisch-national denkenden Bildungsschichten Deutschlands in dies neue imperialistisch aggressiv obrigkeitsstaatliche Bewußtsein leicht erklärlich. Denn es ist nun einmal so, daß wenn eine Sozialschicht, ich möchte hier Bert Brecht strapazieren, sich sozusagen im Wohlstand weiß, daß dann diese Sozialschicht allzu leicht alle kritischen Bewußtseinsformen abstreift und ihre schlechte, nämlich nun im schlechten Sinn ideologische Identifikation mit der realen Machtlage vollzieht.

Das ist kein Vorwurf, sondern eben eine durch die Sozialwissenschaften immer wieder erwiesene Tendenz in der geschichtlichen Entwicklung nicht nur Deutschlands, sondern jeder Nation. Und deshalb beschmutzen wir auch unser Nest nicht, wenn wir am Beispiel unserer eigenen Geschichte derartige Verirrungen analysieren. Wir beschmutzen es a) nicht als Nation, dieweil wir, wenn wir genau hinsehen, genau die gleichen Züge mit anderen Resultaten, weil es nämlich besser ging oder gut ging und friedlichere Transformationen stattgefunden haben, in jeder anderen großen industrialisierten Nation zu beschreiben vermögen, wir beschmutzen es aber auch b) hinsichtlich sozusagen der Sozialschicht nicht, in der sich so etwas vollzieht.

Ich glaube, der einzige moralische Vorwurf, den wir hier erheben dürfen und erheben müssen, richtet sich höchstens gegen einige, sozusagen Spitzenfiguren der intellektuellen Welt, der man um ihres Anspruchs auf intellektuelle Objektivität willen eben mehr und anderes abverlangen müßte. Der Vorwurf also, den ich gleich sozusagen Ihnen gegenüber hinsichtlich Ihrer eigenen Geschichte zu belegen habe, ist im Grunde gar nicht ein Vorwurf an all die Studenten, die in solche Verirrungen hineingetorkelt sind, sondern viel stärker ein Vorwurf, wenn man es überhaupt moralisch und ethisch analysieren will, was man ja auch muß, an diejenigen, die sozusagen die Mentalitäten ideologisch verbrämt und überbaut haben, denen diese studentischen Schichten zum Opfer gefallen sind: Ein Vorwurf also viel stärker an die Herren Professoren, als an die Herren Studenten von damals.

Aber zurück zum Problem. Wir haben gesehen, daß diese Identifikation mit den imperialistischen, ins Imperialistische transformierten ehemals nationalstaatlichen Zügen sich in der ganzen deutschen, sozusagen beamtete Stellungen erstrebenden Mittelschicht noch vor dem 1. Weltkrieg vollzogen hatte, so weit vollzogen hatte, daß die Züge kritischen Denkens solchen Positionen gegenüber natürlich in den herrschenden Klassen vollständig untergegangen waren, so daß sie auch in deren sozusagen intelligentesten und zweifellos wissenschaftlich bedeutungsvollsten Ideologen, ich nenne einen Mann wie Max Weber in der Soziologie, aber auch eben in den Unterschichten versunken waren, versunken waren in einer Weise, daß erstens demokratisch-kritisches Denken und zweitens dem Imperialismus und der Raubkriegsideologie gegenüber ablehnendes kritisches Denken längst vor 1914 zum Monopol der Sozialdemokratie als der politischen Repräsentation der Arbeiterklasse geworden war, der gleichen Sozialdemokratie, die in dieser Mentalität der Gesamtgesellschaft sozusagen von allen anderen Schichten der Gesellschaft als der Abschaum der Menschheit empfunden wurde. Nicht anders als etwa heute antikommunistische Akzente dort, wo sie wachgerufen werden, den Mann außerhalb der diskutablen Gesellschaft stellen.

Sie wissen, wenn Sie etwa, jetzt wieder im theologischen Bereich, an den Kampf um jenen Blumhardt denken, den Vater wie den Sohn, die aus kritisch-theologischen Positionen heraus den Weg zu der kritischen Partei und zu der Kritik dieser Mentalität überhaupt gefunden haben, wie etwa die Kirche auf solche Züge reagiert. Ich meine jetzt Ihre Kirche, die protestantische Kirche, nicht die katholische, die nicht im mindesten anders reagierte, aber das wäre ein Problem einer Spezialuntersuchung, die ich nicht hier anzuschneiden nötig habe. Hier hatte sich in Wirklichkeit eine Mentalität, und das betraf Ihre Verbindung als eine durch die Kirche mitbestimmte, durch kirchliches Denken mitbestimmte Verbindung, entwickelt.

Im übrigen war hier die Mentalität aller theologisch diskutierenden Gruppen wesentlich ähnlich. Das hatte sie in dieser Weise durchspielen können, weil diese protestantische Kirche und die zahlreichen Theologen etwa, die dem Wingolf angehörten, in kirchlichen Dienst treten wollten oder Elternhäusern entstammten, die dem kirchlichen Dienst entsprangen, weil diese Kirche Staatskirche war und sich bei der immer noch geltenden prinzipiellen Wendung zum Summepiskopat des Landesfürsten sich geradezu als Exekutor und identischer Faktor dieser politischen Ordnung wußte.

So war es nicht erstaunlich, daß die Angehörigen der studentischen Korporationen Ihrer Art in dieser Zeit - der Wingolf stellte dabei im Grunde kein Spezialproblem dar - in diese Rolle der Bindung an diese Mentalität, dieser merkwürdig gemischten Mentalität aus christlichen Phrasen, denn kritisches christliches Denken war hier zur bloßen, die schlechte Realität segnenden Phrase abgesunken, und aus Bejahung imperialen Machtstaatsdenkens hineingelangt waren.

So war es nicht zu verwundern, daß die Studentengeneration des Jahres 1914 zu jener Massenhysterie des Jahres 1914, die in Langemark gipfelte, bereit wurde. Wenn wir das feststellen, so ist damit der Heroismus des einzelnen Studenten, der Anerkennung verdient, der hineingelangt war in dieses Denken, in seinem Einsatz für solche entfremdeten Ziele, gar nicht bezweifelt. Im Gegenteil. Und sicherlich mag, neben dem Denken der Jugendbewegung, das nebenbei bemerkt in seinem unkritischen Charakter in ähnlichen Entfremdungen endete, zu dieser Einsatzbereitschaft, einem an sich positiven Faktor also, mag sicherlich auch das Denken nicht nur Ihrer Korporation, sondern das korporative Denken der Studenten überhaupt seinen Teil beigetragen haben.

Und nun müssen wir, um den Weitergang zu verstehen, wieder wissen, daß eben in diesem ersten Wettrennen zweier Machtgruppen von imperialistischen Staaten um die Neuverteilung der Welt - und das war der wirkliche Inhalt dieses 1. Weltkrieges -, daß in diesem Ringen nun deutlich die Gruppe der Mittelmächte unterlag und geschlagen wurde, wobei sich dann sehr rasch herausstellte, daß die geradezu wahnwitzigen Ziele, die sich die gesamten Oberschichten in der ersten Phase des 1. Weltkrieges gestellt hatten, und die, nebenbei bemerkt, in ihren außenpolitischen Ambitionen, wie Fritz Fischer im einzelnen nachweist, in nichts, noch nicht einmal in den Methoden der Menschenbehandlung, auf die man abstellte, sich von den späteren Abenteuern Hitlers unterschieden haben, daß diese Ziele sich als Hybris enthüllten.

Das wurde Teilen dieser Oberschichten und der Ideologen bereits während des 1. Weltkrieges klar. Und daraus erklärt sich nun der Weggang einer ganzen Reihe von geistigen Köpfen, die diese Hybris zunächst mitgetragen hatten, nachdem sie die Bedeutung der Marneschlacht begriffen hatten. Daraus erklärt sich jenes Schisma, wenn Sie so wollen, in den deutschen Oberschichten, das sich dann nach der Friedensresolution des Reichstags und im Ringen um diese Friedensresolution im Jahre 1917, nach der 1. Russischen Revolution, was ich nicht zu vergessen bitte, im Ringen zwischen der Vaterlandspartei und dem Bund Neues Vaterland demonstrierte.

Dabei rutschte auch ein Teil liberal denkender, jetzt meine ich gar nicht kirchlich liberal denkender, sondern eben politisch liberal denkender Theologen führender Art nun in das Lager derjenigen, die begriffen hatten, was war, während die Vaterlandspartei mit ihrem annektionistischen Wahnsinn und die oberste Heeresleitung und die Regierung das nicht zu begreifen vermochten, sondern an ihrem imperialistischen, annektionistischen Wahnsinn festhalten wollten.

Aber dies bloße Begreifen, was war, also der realpolitischen Unmöglichkeit radikaler annektionistischer Lösungen zugunsten Deutschlands, erwies sich zunächst noch gar nicht als eine Reinigung von früherem Denken, sondern als eine realpolitische Einsicht und nicht mehr: Bei Max Weber, bei Friedrich Naumann, teilweise auch bei manchen Männern, die dann später darüber hinwegkommen konnten. Nennen wir Ernst Troeltsch und viele andere aus diesem Zirkel.

Für die Studenten, die an die Fronten geeilt waren, und dazu gehörten Ihre späteren Kameraden, die nun in der ersten Phase der Entwicklung in der Weimarer Republik die Entwicklung Ihres Verbandes getragen haben, stellten sich notwendig die Probleme anders und nicht so realistisch. Denn diese Studenten, die an die Fronten geeilt waren und nun die junge Offiziersgeneration stellten, waren aus den Korporationen gekommen, dann, von der Front zurück, in die Korporationen zurückgekehrt. Diese jungen Leute, die da vorne an der Front kämpften, konnten sich gar nicht das Material dazu holen, um festzustellen, was nun weltpolitisch wirklich war und was sich in der Heimat vollzog.

Und dazu müssen wir wieder eins bedenken, um diese ganze Mentalität zu verstehen, von der aus wir allein dann die Geschichte der Korporationen in der Weimarer Republik zu begreifen vermögen: Beim ersten Rausch des ausbrechenden Weltkriegs hatten sich auch die Unterklassen plötzlich in wenigen Tagen der Mentalität der herrschenden Klassen angepaßt und unterworfen. Sie denken an jenen Prozeß, der zur Bewilligung der Kriegskredite für einen imperialistischen Raubkrieg durch die sozialdemokratische Partei, dieser verfemten Opposition, geführt hat. Es wäre lächerlich, wie es die Kommunisten tun, zu behaupten, daß dieser Umfall dort oben in der Reichstagsfraktion ein „Verrat“ gewesen sei, denn die Massen, sie dachten nicht anders.

Der Begeisterungstaumel des August 1914 hatte für wenige Wochen, sagen wir besser wenige Monate, ausgelöscht, was an kritischem Bewußtsein in dieser deutschen Gesellschaft vorher existiert hatte, und es waren nur wenige Männer und Frauen, vereinzelte Männer und Frauen, die diesem Rausch kritisch zu begegnen vermochten.

Das aber war inzwischen, wenn wir nun den Kriegsverlauf ansehen, und wenn wir uns in diese Phase des Jahres 1917 hineindenken, deren unmittelbare Folge dann jener November 1918 war, der die Dinge veränderte, sehr bald wieder anders geworden.

Da wachte unten, zunächst in den proletarischen Massen und bei den früher zur Sozialdemokratie tendierenden Intellektuellen, der frei schwebenden Intelligenzschicht, wenn Sie so wollen, das kritische Bewußtsein in breiterer Weise wieder auf. Und das führte zu den berühmten Massenstreikbewegungen in Deutschland, beginnend mit jenem Demonstrationsstreik gegen das Zuchthausurteil gegen Karl Liebknecht, der im Jahre 1916 bereits ausbrach. Dann überschlagend in die großen Streikwellen und in die Marinemeutereiwelle, sachlich gesehen eine Streikwelle auf den Schiffen des Jahres 1917, dann nach dem Siege der russischen, kriegsfeindlichen Revolution, der Oktoberrevolution des Jahres 1917, folgte die nächste große Welle, jene Massenstreikwelle der Munitionsarbeiter von 1918, des Januar 1918, ausgelöst durch die Selbstenthüllung des imperialistischen Raubcharakters dieses Krieges in den Bedingungen, die man der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik im Friedensvertrag von Brest-Litovsk aufzwingen wollte.

Alles das wußten diese Studenten, als Frontoffiziere vorne, die die Prozesse, die dahinter standen, nur aus der Ferne kannten, nicht. Was lag da näher für sie, als anzunehmen, nachdem das Debakel nun offenkundig da war, und nachdem das Debakel nun umgeschlagen war in die Revolution des Jahres 1918, daß die Niederlage dieses herrlichen schimmernden Heeres durch einen Dolchstoß von hinten der schäbig arbeitenden Marxisten herbeigeführt worden sei. Ein sozialpsychologisch leicht verständlicher Prozeß. Ein Prozeß, der aber diese Studentengeneration, soweit sie aus solchen Schichten stammte, in heftigste Opposition gegen die werdende Demokratie von vornherein hineinführen mußte, wenn sie nicht verstand, dieses Empfindungsdenken, dieses unkritische Empfindungsdenken durch kritische Analyse zu überwinden.

Aber wo sollte sie dazu den Anreiz finden? Denn die Schicht, jetzt rechne ich wieder in Majoritäten, es gab da rühmliche Ausnahmen genug, aber die Schicht der akademischen Lehrer dieser Periode, sie dachte ja ähnlich. Dies ähnliche Denken in jener Schicht, es war in stärkerem Maße Verschulden, weil es an mangelndem Gebrauch dessen hing, was der akademische Lehrer haben sollte, nämlich wissenschaftliche Kritik und Hang zur Objektivität. Aber, der Tatbestand war da.

Die Hochschullehrer, die diese Studenten nun vor sich sahen, waren mit wenigen Ausnahmen - zu den rühmlichen Ausnahmen gehört hier Ernst Troeltsch - im allgemeinen geradezu darauf angelegt, dieses Scheinbild, das nur sozialpsychologisch, aber nicht durch die Objektivität verständlich war, mit scheinwissenschaftlichen Argumenten, zum Teil mit unmittelbarem wissenschaftlichen Schwindel, und das gilt für den Großteil der Historiker der damaligen Zeit, ich will das gar nicht verdecken, zu begründen.

Die Opposition dieser Schicht, die sich dem Obrigkeitsstaat verbunden gewußt hat, die in der ersten Phase des Krieges davon geträumt hatte, daß die Welt am „deutschen Wesen genesen“, und das heißt, daß die großen deutschen Konzerne über ganz Europa gebieten würden, aber damit auch ihre Art „wissenschaftlichen“ Denkens, diese Schicht war in dieser Mentalität stehengeblieben. Sie wußte sich nun bedroht durch sozialistische Revolution und Demokratie.

Hinzu kam ein Weiteres: diejenigen, die hier kritisch opponierten, etwa in intellektuellen Kreisen, waren wieder, aus soziologisch leicht verständlichen Gründen, im allgemeinen diejenigen, die sozusagen im sozialen Aufstieg in der früheren Scheinselbstbestätigung des Willhelminischen Reiches in seiner Periode der Blüte benachteiligt gewesen waren. Und das waren nun einmal die Juden.

Infolgedessen war für den jüdischen Intelligenzler der Zugang zur objektiven Analyse der Situation viel leichter als für den nichtjüdischen Intelligenzler. Da dem aber so war, war es wieder verständlich, daß jener bis dahin nur angebahnte Antisemitismus, der zweifellos im Wilhelminischen Reich seine Rolle, seine erhebliche Rolle spielte, aber eben als bloß latenter gesellschaftlicher Antisemitismus, nun Blüten trieb, die erstaunlich wurden.

Denn nun wußte dieser Student, der von solchen Hochschullehrern, von solchen „Alten Herren“, die in diesen Legenden dachten, erzogen und durch sie bestimmt wurde, der als zurückkehrender Kriegsteilnehmer und Frontoffizier die Dinge gar nicht kritisch zu analysieren imstande gewesen war, sondern nur erlebt hatte, daß, während er sich draußen schlug, sich hier eine politische Änderung vollzogen hatte. Nun wußte dieser junge Student sehr häufig, daß derjenige, der diese seine Vorstellungskraft kritisiert und aufzulösen trachtet, das ist in der Intelligenzschicht der Jude, das ist im übrigen die demokratische Arbeiterbewegung, und demokratisch in diesem Sinne war damals unzweifelhaft noch auch die Arbeiterbewegung in ihren radikalsten Formen, etwa in kommunistischen Formen, wenn Sie an die Bürgerkriegsperiode in Deutschland denken und sich etwa vorstellen, daß damals noch die Formulierung Rosa Luxemburgs, daß Freiheit immer Freiheit der Andersdenkenden sei, sogar in die Programmvorstellungen dieser Kommunistischen Partei hineingerückt war.

Und also entstand hier ein merkwürdiges Gefühlsgemisch in dieser Sozialschicht, organisatorisch gefroren in den Korporationen, aus welchen Gründen, werde ich Ihnen gleich zeigen, in dieser Sozialschicht der jungen Studenten, das antisemitisch-völkische, „christliche“, scheinchristliche wohlgemerkt, und antidemokratische Züge verband, zunächst als unbestimmtes Gemisch von Gefühlen.

Dabei hatte auch die antisemitische Komponente ihre Geschichte, ihre Geschichte in der akademischen Jugend seit der Zeit, in der der VDSt als erster eine Korporation des virulenten kleinbürgerlichen Antisemitismus wurde, wie vorher in den Reihen der christlichen Kirche Stöcker den Antisemitismus in besonderer Form zur Blüte gebracht hatte. Und tatsächlich gab es hier ja sehr viele geistige Verbindungszüge.

Das hatte sich schon vor dem 1. Weltkrieg auch auf die anderen Korporationen erstreckt, wenn auch noch nicht mit deutlichen Ausleseformulierungen. Es drängte nun weiter nach vorn in der Situation nach dem Ende des 1. Weltkriegs und dem Siege der Revolution, die ich charakterisiert habe.

Und so war es kein Wunder, daß in der Periode des Bürgerkrieges um die Demokratie in Deutschland, in der Periode, die wir durch das Endjahr, genau besehen 1920, im wesentlichen charakterisieren können, denn das Jahr 1923 mit seiner erneuten Krise stellt dann eine Sonderproblematik dar, daß in dieser Periode des Bürgerkrieges diese korporierten Studenten, einschließlich derer, die sich wie Ihre Verbindung für „christlich“ hielten, die virulente „Aktivitas“ der Gegenrevolution, und zwar der militanten und schießenden Gegenrevolution darstellten.

Denken Sie an jene Periode, in der z.B. hier in Marburg Studentenbataillone, Zeitfreiwilligenbataillone nur aus Studenten aufgestellt wurden, die nun singend, raubend und mordend durch Thüringen zogen, um sozusagen ihr Mütchen an den Thüringischen Gegnern - in Thüringen, einem hochindustrialisierten Land, stand die Bevölkerung generell links, auch die Landbevölkerung, weil ja die Industrialisierung das Land erfaßt hatte -, für den Verlust des Kapp-Putsches zu kühlen.

Ich erinnere an den Mordprozeß, der dann wegen dieses Raubzuges abgespielt wurde und in den eine ganze Reihe Marburger Korporationsstudenten hineingezogen wurde. Aber das war kein besonderes Signum von Marburg, denn Sie können an jeder anderen Studentenschaft dieser Periode die gleichen Züge überprüfen.

Zufällig, weil einer meiner Vettern, der Pfarrer geworden ist und Wingolfit war - mit dem ich übrigens sehr befreundet gewesen bin, ein anderer Vetter, der Jurist war, war auch Wingolfit -, wußte ich sehr genau darüber Bescheid, in welcher Weise, so auch in den Wingolf-Verbindungen der damaligen Zeit, die militärische Ausbildung auch dann nach dem Jahre 1920 noch großgeschrieben wurde zum Weiterführen eben dieser Mentalität des antidemokratischen und antisozialistischen Bürgerkrieges und wie weit die Mentalität der Abneigung gegen die Juden hier wie alle anderen Korporationen so auch den Wingolf erfaßt hatte. Auch in den entsprechenden studentischen Korporationen war es das Anliegen, den völkischen, das heißt auch den antisemitischen Volkstumsgedanken gegen die nationale Existenz einer Demokratie als einer Staatsvolkinstitution zu stellen. Im Einklang mit dieser Position stand die Ablehnung der demokratischen Struktur des Weimarer Staates, die Ablehnung des angeblich hypertrophierten jüdischen Einflusses in diesem Staat, und damit der Juden als „volksfremder Elemente“, und selbstverständlich die Ablehnung jeder Form der Arbeiterbewegung. In der ganzen Periode der Weimarer Republik gab es in wechselnden Formen gleichzeitig die Position des militanten, nicht friedlichen Revisionswillens gegenüber dem Versailler Vertrag, repräsentiert durch die Hochschulringe deutscher Art und durch die entsprechenden Korporationszusammenschlüsse.

Es war dabei soziologisch interessant, daß diese Mentalität, repräsentiert durch die Korporationen, die nur vorübergehend - unmittelbar nach der Revolution - Auseinandersetzungen darüber zeigten, aber mit eindeutigem Sieg eben der so denkenden Elemente, gestützt auf die Mentalität der „alten Herren“ dieser Korporationen, daß diese Entwicklung sogar von den Führungsklassen, die sie erst produziert und gestützt hatten, um sozusagen den Sieg in der bürgerlich werdenden Republik behalten zu können, das Gegengewicht gegen die Arbeiterbewegung zu halten, vorübergehend einmal bedauert wurde. Verständlicherweise in der sozialgeschichtlichen Periode, in der die Weimarer Republik sich auch ökonomisch stabilisiert hatte, nach dem Dawes-Plan und der Überwindung der Deflationskrise, in jener Periode, in der wir vorübergehend auch einmal eine Hochkonjunktur hatten. Der gleiche Reichsverband der Deutschen Industrie, der vorher diesen militanten, antisemitisch-völkischen Geist des Korporationswesens energisch gefördert und finanziell ausgestattet hatte, er wandte sich nun der Versöhnung mit der Realität zu. Der politische Ausdruck dieser Versöhnungsperiode ist jene Periode, in der der ehemalige Radikal-Annektionist Stresemann sich zum wirklich großen Staatsmann entfalten konnte.

Dramatisch trat das Ganze in der Rede zutage, die Duisberg, der Chef des werdenden IG-Farben-Konzerns, im Jahre 1927 hielt, in der er betonte, daß auch die studentischen Korporationen, das studentische Verbindungswesen und die Studentenschaften doch jetzt ihren Frieden mit der Realität und mit der Republik machen müßten, denn die Gefahr des Sozialismus und sozialistischer Umgestaltung der Republik sei überlebt, und was an solchen Normen noch in der Weimarer Verfassung stecke, sei gänzlich uninteressant geworden, weil es ja praktischer Verwertung nicht mehr zugänglich sei. Es lasse sich in diesem System, sozusagen wie die Konjunktur ad oculus demonstrierte, durchaus existieren und leben.

Verständlich, daß diese junge Studentengeneration von damals, daß auch ein Teil der dahinterstehenden „alten Herren“ diese Wendung nicht voll mitvollziehen konnte, weil diese ihre Mentalität, die ich charakterisiert habe, nun Eigenständigkeit gewonnen hatte und man damals Bevölkerungsstimmungen noch nicht so rasch und so gut ummanipulieren konnte, wie wir das technisch im Dritten Reich, aber technisch auch in der Nachkriegsperiode so gut vordemonstriert bekamen.

So blieb also trotz dieser Versöhnungsperiode, in der allerdings das militant gegenrevolutionäre Denken dieser gesamten Korporationswelt, inklusive Ihrer, Sie stellen gar keinen Sonderfall dabei dar, eher einen Fall größerer Mäßigung als etwa bei den Waffenstudenten, die Tatsache, daß dies Denken sich dann doch zwar milderte, aber bestehen blieb.

Und als dieses System zunächst gar nicht politisch, sondern nur ökonomisch in eine neue Krisenperiode eintrat, konnte dieses Denken zu größter Virulenz und neuer Kraft aufsteigen. Zunächst war ja die Krise, der dann die Weimarer Demokratie und ihre politische Ordnung zum Opfer gefallen ist, gar nicht eine politische, sondern allein ökonomische Krise, ausgelöst, gerade jetzt wieder vom studentischen Boden aus gesehen, durch mehrere Momente: rein ökonomisch ausgelöst von jener Überproduktionsperiode und Stagnationsperiode, die schon Ende 1928 deutlich wurde, und den sozialen Kämpfen, die von dort ausgingen, aber immer von einer merkwürdigen Parallelerscheinung, die wir heute nicht haben, begleitet, von der Parallelerscheinung nämlich der strukturellen Erwerbslosigkeit selbst in der Konjunktur, also einem Rest von Erwerbslosigkeit, der selbst auf dem Ast der Hochkonjunktur verblieben war und der sich besonders stark gerade für die akademische junge Generation demonstrierte. Sie zeigte sich dadurch, daß hier eine ganze Anzahl von juristischen, von sonstigen, auch philologischen Führungsstellen ganz einfach durch die Reduktion des deutschen Reichsgebiets und durch die Steigerung der Studentenzahl entfallen war, so daß dem jungen Studenten, selbst demjenigen, der in den Jahren der Hochkonjunktur 1927/28 Examen machte, keineswegs jene sichere Aussicht auf berufliche Verwendung in solchem Maße offen stand, daß er seine Statusansprüche, die er mit dem akademischen Herrenbewußtsein, das ihm die Korporationen wie die Universität vermittelt hatten, mitbrachte, verwirklichen konnte, daß ihm eine solche Verwirklichung seines Berufslebens durchaus nicht sicher war.

In Wirklichkeit setzt dies Problem der Übersetzung sozusagen des Studiums in breitestem Maße tatsächlich auch erst nach 1918 an. Aus vielfachen Gründen. Einmal aus dem Grunde, daß hier nun sozusagen gestaut eine ganze Reihe von Jahrgängen im Studium zusammentrafen, denen natürlich nicht entsprechende Abgänge in die Sozialpositionen, die die Leute nach dem Examen einnehmen wollten, entgegenstanden. Auf der anderen Seite ergaben sich Stauungen durch einen allgemeinen sozialen Prozeß, der alle Industriegesellschaften bestimmt, aber darüber hinaus die Situation wesentlich erweitert und nicht zuletzt wesentlich verändert.

Auch dies Moment müssen wir bei dem Entstehen dieser Mentalität und bei dieser translatio imperii von der obrigkeitsstaatlichen imperialistischen Mentalität des Korporationswesens vor 1914 in das aktiv antirechtsstaatlich konterrevolutionäre Denken nach 1918 in Betracht ziehen.

In jeder modernen Industriegesellschaft, nicht nur in der deutschen, erzwingt die Struktur der bloßen Industriegesellschaft die Erweiterung des Bildungsniveaus der Gesamtbevölkerung, denn eine moderne hochindustrielle Gesellschaft kann ohne solche Erweiterung nicht existieren. Ein Prozeß, den Sie vielfältig auch heute beobachten können, der sich übrigens, und das gehört auch wieder zum Verständnis dieses Prozesses, in kapitalistisch organisierten Gesellschaften anders vollzieht als in sogenannt sozialistisch organisierten, also auf gesellschaftlichem Eigentum basierenden Gesellschaften. In solchen Gesellschaften, die sich rasch anindustrialisieren, wird dieser Prozeß von vornherein geplant und daher überbewertet. In den kapitalistischen entsteht er erst auf einem bestimmten sozialen Niveau und ökonomischen Niveau der Gesamtentwicklung als breiter Prozeß.

Das hatte zur Folge, daß, während in der klassischen Struktur der Gesellschaft, der das Korporationswesen historisch entstammt, nur die gesichert begüterten Schichten ihre Söhne zum Studium geschickt hatten, jetzt andere Schichten zum Studium drängten.

Wenn Sie das soziologisch etwa an der Weimarer Republik analysieren, so finden Sie, daß damals bereits die große Majorität der Studenten gar nicht aus akademisch gebildeten Elternhäusern stammt oder aus den Oberklassen, das war wenig mehr als ein Drittel bis 40 Prozent, das schwankt im einzelnen, während die Majoriät der Studenten, die nun nach 1918 zum Studium drängen, den, wenn wir in den Strata-Vorstellungen der amerikanischen Soziologie oder etwa Geigers sprechen, lower middle-classes entsprangen, also den mittleren Beamtenschichten, den Angestelltenschichten und dergleichen mehr.

Diese Studenten brachten aber nun eine merkwürdige Bewußtseinslage mit. Erstens das Bewußtsein des Tatbestandes, daß ihr Studium nicht ökonomisch gesichert war, daß sie aber nun gerade die ökonomische Sicherung jenseits des Studiums doppelt erstrebten, denn das war ja ihre Statusbestätigung. Dann das Bewußtsein des Minderwertigkeitskomplexes, des sozialen Minderwertigkeitskomplexes gegenüber den Studenten aus den traditionalen akademischen Führungsschichten, und gerade um dieses sozialen Minderwertigkeitskomplexes willen, der sich immer sozusagen als Anpassungskomplex gegen das putativ Obere darstellt, auch das ist ein generelles Gesetz jeder Gesellschaft, das ist kein spezieller Vorwurf, der hier erhoben wird, mußte sich nun darin zeigen, daß sie gerade in jenen von klassischen Schichten getragenen und von den „Alten Herren“ dieser klassischen Schichten gehaltenen Korporationen den Idealpunkt für sich sahen.

Die Aufnahme in die Korporation war der Ausweis ihres neuen sozialen Status für ihr Bewußtsein, für ihr durchaus ja unkritisches Bewußtsein. Aber wer half ihnen von den akademischen Lehrern denn zu kritischem Bewußtsein? Und deshalb liegt in diesem Anpassungsvorgang wiederum kein Vorwurf, sondern eine objektiv historisch-soziologische Feststellung, nicht mehr.

Aber in diese Lage platzt nun für diese gesamten Schichten ein doppelter Prozeß hinein, erstens für die Oberschichten, die traditional akademischen Schichten, und den Teil der selbständigen, jenen Teil der aus den selbständigen Mittelschichten, jetzt nicht nur Angestelltenschichten und dergleichen entstammte, der Vorgang jenes inflationären Prozesses, der im Jahre 1923 kulminiert und all diesen Schichten ihre frühere Vermögensgrundlage nahm. In Wirklichkeit handelte es sich hier um einen mittels der politischen Gewalt und ihres Mitwirkens vollzogenen Raubprozeß groteskester Art, einen Raubprozeß der großen Sachwertbesitzer, der großen Konzerne nämlich, gegen die Gesamtbevölkerung, nämlich gegen die Mittelschichten und nichts anderes. Gewiß spielte dabei auch die politische Ordnung eine Rolle, nämlich die Regierung Cuno und ihre Vorgänger, die diesen Prozeß mitorganisiert haben, aber im Interesse der Konzerne, denen die Herren dieses Kabinetts zum großen Teil entstammten.

Für diese Studenten aber und die Betroffenen stellte sich das Ganze als ein Raubprozeß des demokratischen Staates gegen die Sicherheit, die es im Obrigkeitsstaat einst gegeben hatte, dar. Das war zwar ein falsches Bewußtsein, aber wiederum ein verständliches Bewußtsein. Hinzu kam, daß durch diese Vermittlung sich dies gegenrevolutionäre Bewußtsein der Periode bis 1920 nun in die folgende Periode leicht transformieren ließ.

Das alles wiederholte sich aber dem Schein nach nun nach 1929 in breitester Weise durch den Prozeß der ökonomischen Krise, die die Berufsaussichten der gesamten akademischen Jugend, abgesehen von denen, die durch allzu enge Familienbeziehungen voll abgesichert waren, geradezu auf den Nullpunkt sinken ließ.

Ich erinnere nur daran, daß, als ich selbst mein Referendarexamen ablegte, im Jahre des Heils 1930 die Durchfallquote schon etwa 70 % in Preußen betrug, weil man auf diese Weise sieben wollte. Sie können sich vorstellen, was das nun für jeden einzelnen Studenten hieß, denn das war kein besonderes Charakteristikum bei der juristischen Fakultät, und daß darüber hinaus für denjenigen, der ohne sogenanntes Prädikatsexamen bestand, sich herausstellte, daß wenn er auch nur als Assessor, als bezahlter Assessor im Staatsdienst Unterkunft finden wollte, nun mit einer Wartefrist nach dem zweiten Staatsexamen von mindestens sieben Jahren zu rechnen hatte. Dann können Sie sich etwa von der Situation, in der der damalige Student sich befindet und die er nun ideologisch überformt, ein Bild machen. Man wußte die Vertreter der Linken in Deutschland als „Feinde“ in der akademischen Jugend. Das normale akademische Bewußtsein ging nun dahin, die Prozesse, die sich hier realiter abspielten, nicht durch soziologische Analyse und Kritik zu erhellen, sondern zu verdunkeln, und in dies gleiche Bewußtsein abzugleiten, wenn wir wieder absehen von einer Anzahl von Hochschullehrern, die anders verfuhren. Aber in dieser Anzahl von Hochschullehrern, die anders verfuhren, war nun wieder die Majorität mit dem Makel jüdischer Herkunft oder jüdischen Glaubens ausgestattet. Gerade gegen diese jüdische Herkunft und diesen jüdischen Glauben war man mobilisiert und geimpft worden. Und so war es wieder nicht zu verwundern, daß dieser Prozeß der Krise, der nun einsetzt, der so präparierten Studentenschaft, die durch das von den „Alten Herren“ vermittelte obrigkeitsstaatliche Bewußtsein von früher gestaltet war, umschlug in militantes, jetzt nicht mehr obrigkeitsstaatliches und daher noch an bestimmte Rechtsschranken gebundenes Bewußtsein, denn zur Situation des Obrigkeitsstaates vor 1914 gehörte ein gewisses Maß an rechtsstaatlicher Bindung, sondern umschlug in ein militantes faschistisches, und das hieß hier in Deutschland konkret nationalsozialistisches Bewußtsein.

Nicht immer nationalsozialistisch, aber in Wirklichkeit unterschied sich ja der Hugenberg-Flügel der DNVP und die Nationalsozialistische Partei, und diese beiden wieder von den verschiedensten anderen militant völkischen Gruppen, einschließlich des TAT-Kreises nur durch das Moment der Konkurrenz untereinander, nicht aber in den Grundlagen ihres Denkens. Und so war es kein Wunder, daß sich nun dies Korporationsstudententum, in diese Mentalität hineingebracht, zu diesen militant faschistischen Bewegungen hingezogen fühlte, abgesehen von katholischen Korporationen, die ihre Repräsentanten, Herrn Brüning zunächst, an der Macht und sich so identifiziert wußten. Tatsächlich hatte in der ganzen Periode zuvor die katholische Kirche in Deutschland niemals eine Machtstellung wie damals. Die katholischen Korporationen hatten es also leicht, hier anders zu verfahren und die Brüningsche obrigkeitsstaatliche Diktatur als ihren Identifikationspunkt anzunehmen. Abgesehen von diesen katholischen Korporationen wanderten also alle anderen Korporationen, wieder mit wenigen Ausnahmen, auch das will ich nicht bestreiten, ab zur faschistischen Massenbewegung und ihren militanten antirechtsstaatlichen und zum Teil auch nun an die Grenze des Verbrecherischen gehenden Formen.

An die Grenze des Verbrecherischen gehende Formen, das müssen wir hier durchaus betonen. Wir dürfen hier wieder zum Entstehungsprozeß dieses Vorgangs nicht vergessen, wo diese Wendung ansetzt. Wohlgemerkt, es besteht kein Zweifel, das Korporationsstudententum, ob waffenstudentisches, ob anderes, wie die ihm entsprechenden Klassen - das Korporationsstudententum wußte sich vor 1914 nur als die Vorbereitung dieser Klassen in bestimmten gesellschaftlichen Formen rechtsstaatlich gebunden, gewiß rechtsstaatlich mit Schranken. Für dieses rechtsstaatliche Bewußtsein von vor 1914 galt die Ausnahme, daß man den Proleten, Prolet war zum Schimpfwort hier geworden, als Paria wußte. Dazu gehörte, daß man etwa den Sozialdemokraten als „Staatsfeind“ und als subversives Element und als Feind der Gesellschaft wußte. Aber für das Bewußtsein der Sozialschicht dieser Zeit besaß auch der Paria und auch der Feind der Gesellschaft dabei das andere Moment, Mensch zu sein und also mindestens in dieser seiner Existenz als Mensch, wenn auch in Schranken, respektiert zu werden. Der Gedanke etwa an den politischen Mord als selbstverständliches Spiel liegt der deutschen Periode, der Entwicklungsperiode dieses Denkens vor 1914, noch fern.

Nach 1918 hat sich dies Bild ungeheuerlich rasch, von heute auf morgen, gewandelt, gewandelt in den beginnenden Klassenkämpfen und Bürgerkriegsauseinandersetzungen der Weimarer Republik selbst.

Sie werden wissen, daß es in Deutschland breiten Terror von links in dieser Periode nicht gegeben hat. Die Mordfälle von links, die man zu zählen vermag, soweit man das als Mord charakterisieren will - es handelte sich in allen diesen Fällen, abgesehen von den Münchener sogenannten Geiselerschießungen, um Tötungen im Kampf oder in der Aufregung des Kampfes -, bezifferten sich in diesen ganzen Jahren auf maximal 50. Die Tötungsfälle von rechts betrafen am Ende weit über 1000. Und diese Tötungsfälle von rechts hatten dabei den Sondercharakter, daß sie mit bestem Gewissen vollzogen wurden, während die Linke noch in der damaligen Situation an jener Mentalität festhielt, die im Programm nur der äußersten Linken, das ich hier, nur weil es die äußerste Linke ist, als Beispiel nehme, daß Terror in jeder Form unzulässig sei, nicht nur als individueller Terror, sondern auch als Massenterror. So stand es im Programm der kommunistischen Partei Spartakus und weil, so begründete das das Spartakus-Programm, der Terror immer darauf ausgehe, den Menschen zu vernichten. Die proletarische Revolution charakterisiere sich aber dadurch, daß sie nicht Menschen vernichte, sondern gesellschaftliche Bedingungen verändere. Diese Mentalität wurde von der Linken in Deutschland bis in die Verzerrungen des Bürgerkriegs hinein durchgehalten.

Von rechts sah es sehr bald so aus, schon an jenem 15. Januar 1919, daß - wenige Tage vorher waren schon Parlamentäre der Spartakusleute, die Waffenstillstandsverhandlungen führen sollten, von den Freikorps niedergemacht worden - jetzt der systematische Ausrottungsfeldzug gegen alle Führer der äußersten Linken begann. Und dieser wurde nun merkwürdigerweise nicht mehr von der Justiz behindert. Der Untersuchungsrichter, der den Mord an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg klären sollte, hat nachweislich in einem Prozeß 1930 - inzwischen war dieser Untersuchungsrichter zum Reichsanwalt aufgestiegen - die Täter ganz bewußt begünstigt und der Strafe entzogen. Das änderte nichts daran, daß dieser Nachweis in einem Beleidigungsprozeß geführt werden konnte, daß der Mann Reichsanwalt blieb. Das charakterisiert die Mentalitätsverzerrung, die hervorgekommen war, wohl mit am besten.

Aber dieser Mord wurde nun überall akklamiert, formell akklamiert durch eine Sozialschicht. Und damit war das Klima geschaffen, das den politischen Mord an dem, den man als „Feind“ ansah, selbstverständlich werden ließ. Die Mordwelle der ersten Periode endete erst, als 1922 die Mörder nun nicht mehr nur nach Arbeiterführern griffen, sondern auch Außenminister niederzuschießen begannen, nämlich Walter Rathenau. Dann wurde das Ganze vorübergehend gestoppt. Aber die Mentalität war geschaffen, auf die es hier ankam.

Und diese Mentalität wacht nun nach 1930 verständlicherweise virulent auf. Und diese Mentalität macht die generelle Identifikation des Korporationswesens mit dieser antirechtsstaatlichen, antisemitischen, antidemokratischen Bewegung verständlich.

Wie weit sie auch Ihre Korporation ergriff, darauf will ich aus Ihren Akten nur ein Beispiel bringen. Der Breslauer Wingolf gab folgende Darstellung der Zusammenstöße in der Breslauer Universität im Dezember 1932, also vor der „Machtergreifung“, in der Periode der Schleicherschen Diktatur. Vielleicht auch noch der Papenschen Diktatur, denn das genaue Datum ist hier nur angedeutet. „Der Breslauer Wingolf gibt folgende Darstellung der kürzlichen Zusammenstöße in der Breslauer Universität: Der Breslauer Wingolf an all seine Brüderverbindungen: Liebe Brüder! Unseren Gruß zuvor. Wie Ihr durch die Presse erfahren habt, stehen wir mitten in einem hochschulpolitischen Kampf, der sich um die Person eines gewissen Professor Cohn dreht! Zusammen mit der gesamten deutschen Studentenschaft der Universität Breslau lehnen wir die Berufung eines ‘Cohn’ an die deutsche Grenzlandsuniversität Breslau ab und stehen nicht an, aufs schärfste gegen die Berufung des Cohn in den juristischen Prüfungsausschuß zu protestieren. So lange ein ‘Cohn’ an der Universität, von der im Jahre 1813 die Befreiung des deutschen Volkes ausging, liest, wird niemals Ruhe eintreten, und wir werden mit allen erlaubten akademischen Mitteln kämpfen, bis die Ehre und das Ansehen unserer Hochschule wiederhergestellt ist.“ Und so weiter.

Sie sehen: das, was hier die Explosion erzeugt für das Bewußtsein dieser Studenten aus Ihrem Verband - es geht hier nicht um Vorwürfe, es geht hier darum zu sehen, was war - wird durch den bloßen Tatbestand des Namens Cohn hervorgetrieben, durch gar nichts anderes. Inzwischen ist das Denken so weit entrationalisiert und, entschuldigen Sie, aber man muß es sagen, entchristlicht, daß den Leuten gar nicht mehr auffällt, daß sie hier ohne jeden inhaltlichen Bezug sozusagen ihren explosiven Willen an der bloßen Symbolwirkung eines Namens entzünden.

Und so war es kein Wunder, daß in dieser Periode nun ganz allgemein alle studentischen Korporationen, wohlgemerkt nicht nur Ihre, in Ihrer tritt das auch hervor, ganz selbstverständlich, zunächst mit dem NSDStB zwar eventuell sozusagen Ressortschwierigkeiten haben, insofern er ein konkurrierender Studentenverband ist, und das läuft an der einen Universität so und an der anderen Universität anders, aber sich ihm politisch und der Hitlerschen Bewegung politisch voll verbunden wissen, obwohl diese Hitlersche Bewegung, wie Sie auch wissen, aus ihren antirechtsstaatlichen und auf offenen Mord gerichteten Willen mindestens seit 1930/31 überhaupt keinen Zweifel zugelassen hatte. Dazu müssen Sie lediglich an Äußerungen von Reichstagsabgeordneten der Hitlerbewegung im Reichstag: „Legal bis zur letzten Sprosse, gehenkt wird doch“ und an das faktische Verhalten der SA denken - denken Sie an jenen Potempa-Mord, bei dem ein kommunistischer Arbeiter von der SA in seiner Wohnung überfallen und zu Tode getrampelt wird. Und alle diese Fälle waren der Öffentlichkeit durchaus zugänglich und durchaus bekannt. Das ist die Situation, in der nun der Umschlag auch des politischen Systems naht, und die Leichtigkeit dieses Umschlages wird Ihnen vielleicht aus der vorbereitenden Wirkung, die auch das Korporationswesen, das sich hier identifiziert hatte, bei allem Konkurrenzwillen im übrigen gegenüber anderen Verbänden, leichter verständlich.

Der Umschlag der Machtübernahme von Schleicher zu Hitler, zur Hitler-Hugenberg-Kombination war sicherlich nicht durch Korporationen gewollt und herbeigeführt worden, auch nicht durch Ihre, sondern er war ganz eindeutig herbeigeführt worden durch kombiniertes Handeln, wie wir heute sehr genau wissen, von Führern der deutschen Wirtschaft und Führern des deutschen Großgrundbesitzes und ihren Druck auf Hindenburg. Aber dieser Machtübergang mußte jetzt geradezu als Befreiung, als symbolische Befreiung akklamiert werden. Und er wurde als das akklamiert, was ich hier charakterisiert habe. Akklamiert zunächst unter dem Gesichtspunkt nur der „nationalen Revolution“, wie der Terminus hieß, dann als mehr. Und schon als er nur als Moment der „nationalen Revolution“ akklamiert wurde, beinhaltete diese Akklamation all das, was dann natürlich auch kam. All das mag übertrieben erscheinen. Es ist in einer Beziehung, wie wir gleich sehen werden, wirklich übertrieben. Es gehörte zu den Charakteristika des Korporationsdenkens, daß es das Honoratiorendenken des Studenten der liberalen Entwicklungsperiode des vorigen Jahrhunderts in ein Elitedenken transformiert hat, in ein Elitedenken, das dadurch charakterisiert war, daß man sich erstens einmal, die akademischen Schichten überhaupt, als vorberechtigte Elite gegenüber der übrigen Bevölkerung zu wissen glaubte, zweitens aber, daß man sich selbst, die Gesamtheit der Korporierten, als Elite innerhalb der akademischen Jugend und also die alten Herren als Elite innerhalb der Berufsakademikerwelt zu wissen glaubte. Dies Elitedenken, in dieser Form sozusagen eine Entsprechung, so wird man als Soziologe zu urteilen haben, zu dem hierarchisch elitären Denken a) des Militärs und b) der Bürokratie des Wilhelminischen Obrigkeitsstaates, anderen Gesellschaften in dieser Form fremd, war nun aufrechterhalten geblieben und sozusagen bewährt im Ringen, im bewußten Entgegensetzen dieses elitären Denkens gegen die Demokratie. In Wirklichkeit wurden die Formen dieses Elitedenkens auch von der nationalsozialistischen Bewegung verwandt, die sich nun auch in Parteistruktur wie Verhaltensweise demonstrativ als Elite, die Akklamation erheischt, glaubte und aus diesem ihrem Bewußtsein keinerlei Hehl machte.

Am antidemokratischen Charakter dieser Bewegung haben trotz aller Phantasien heutiger Historiker darüber, daß die nationalsozialistische Bewegung sozusagen eine Form Rousseauisch totalitärer Revolution sei, ernsthafte Zweifel niemals irgendeinen Grund gehabt. Es handelte sich um eine militante faschistische Gegenrevolution, die sich als Gegenrevolution gegen die Demokratie wußte, nicht um eine demokratisch vermittelte revolutionäre Bewegung. Insofern konnte man also ideologisch sehr hübsch nebeneinander und ineinander finden. Und infolgedessen war auch, so lange der Konkurrenzcharakter der Verbände nicht hervortrat, die Identifikation der Korporationen auch hier mit nationalsozialistischen Vorstellungen leicht. Diese wandelte sich partiell bereits in der Periode vor der nationalsozialistischen Machtbesetzung - von Eroberung kann man nicht sprechen, denn sie wurden in die Macht eingewiesen - bereits partiell häufig in den Konkurrenzkampf sich elitär wissender Gruppen ab, des Korporationsstudententums hier, des NSDStB auf der anderen Seite mit seinem Anspruch, wobei das nun vielfältig ineinander überging, aber durchaus nicht immer harmonierte, und in der allerletzten Periode der Weimarer Republik zu dem ständigen Ringen zwischen den Korporationsbünden mit dem NSDStB hinführte.

Gleichwohl, nun war die Machteinweisung der Nationalsozialisten geschehen. Sie wurde als „nationale Revolution“ drapiert, mit all dem Phrasengebimmel, das dazu gehörte. Da standen Hindenburg, Hitler und Hugenberg nebeneinander, wobei den jungen Studenten verständlicherweise trotz dieses Konkurrenzdenkens der Verbände hierbei noch der jüngere Hitler, der nicht so sehr kompromittiert war, als der sympathischste erscheinen mußte, auch wenn man mit dem NSDStB im übrigen gar nicht so einverstanden war.

Aber jetzt setzte sehr bald notwendig auch der Konkurrenzkampf nationalsozialistischer Studentenführung mit den Korporationen und das Ringen um die Eingliederung und Unterwerfung der Korporationen ein. Ein Ringen, das in Wirklichkeit Konkurrenzen, wie Sie sehen, innerhalb ein und der gleichen ideologischen wie politischen Grundlage betraf. Nicht mehr. Verständlich, daß es dabei Reibungen gab, Reibungen in hohem Maße. Verständlich, daß dabei die altelitäre Struktur der Korporationen ihre Bewahrung erzielen wollte. Aber hier ging es um Konkurrenz, nicht um Gegensatz, nicht um Zweifel am Ganzen.

Wie weit das der Fall war, dafür ein Beispiel. Der neue „Bundesführer“ des Wingolf, denn jetzt wurde diese Führerstruktur in nationalsozialistischer Art durch Druck von oben und gar nicht durch den freien Willen der in ihren altelitären Formen denkenden Korporationen den Korporationen aufgedrängt, proklamiert am 13. Juni 1933, ich bitte das Datum zu beachten, weil es zur Exegese dieser Problematik interessant genug ist, „a) ich gelobe, all meine Kraft in den Dienst des Wingolfs zu stellen, sein Wesen, wie es von seinen Gründern bestimmt, durch fast hundertjährige Geschichte gepflegt und in der Gegenwart mit neuer Verantwortlichkeit erfüllt wurde, wird die Richtung meines Handelns bestimmen.“ Dann kommt ein zweiter Absatz, und hier kommt nun natürlich auch die Verpflichtung auf „christliches“ Denken. Aber jetzt kommt der zweite Abschnitt: „Ich gelobe Adolf Hitler, dem Führer des geeinten deutschen Volks und dem Schöpfer des neuen deutschen Staats, treue Gefolgschaft. Die Aufgabe des Wingolf ist, ihm und damit dem Neubau des deutschen Reiches in Gottes- und Menschenzucht gefestigte, kämpferische, von heißer Liebe zu ihrem Volk erfüllte Männer zu stellen, die einsatz- und opferbereit ihr Leben Deutschlands Dienst weihen“ usw.

Sie sehen, daß hier die klare Identifikation mit Adolf Hitler, sicherlich durch Druck auf die Korporation, aber bereits widerspruchslos in einer Zeit zu erfolgen vermag, in der, ich erinnere wieder an das Datum, staatsrechtlich gesehen, politisch gesehen, von dieser Identifikation im übrigen noch keine Rede ist. Denn das Ganze liegt vor der Auflösung des Koalitionscharakters der deutschen Reichsregierung, die wenige Tage darauf durch die Liquidation der Machtstellung Hugenbergs erfolgt. Das Ganze liegt lange vor jener Transformation staatsrechtlicher Art des Reichskanzlers Adolf Hitler in den „Führer“ des Deutschen Reichs unter Wegfall des Präsidentialamts, die nach dem Tode Hindenburgs erst erfolgt. Wohlgemerkt, dieser Prozeß war kein Wunder. Ich habe Ihnen zu zeigen versucht, daß dieser Prozeß dieser Hinwendung nicht unter dem Zeichen ethisch zurechenbarer Schuld analysiert werden sollte, sondern unter dem Zeichen objektiver politisch-soziologischer Analyse, die natürlich dann individuell auch einmal durch das Schuldelement gemessen zu werden vermag. Warum nicht? Und der Appell zu verantwortlichem Handeln sollte der Appell sein, der der Hinwendung zu a) theologischem und christlichem und b) politischem Denken immer zugrunde liegt. Aber dieser Prozeß war, wenn auch nicht reibungslos, vollzogen. Zwar gab es in der Abklangperiode noch zaghafte Versuche, sozusagen einigen bösen Konsequenzen des Dritten Reiches lahm zu entgehen. Doch kommt sehr rasch die Periode, in der den Altherren-Verbänden wie den Korporationen sozusagen von außen durch die Führerstruktur, die man der Studentenschaft gegeben hatte, aufgenötigt wird, sich zum „Arierparagraphen“ zu stellen und zu bekennen. Und zwar zum Arierparagraphen jetzt nicht mehr in der Weise des schlicht emotionalen antisemitischen Bekenntnisses, wie es sich Ihnen aus Ihren Reihen im Jahre 1932 demonstriert hat, in einer geradezu kindisch-symbolischen Form, sondern auch in der Form zu bekennen, daß man nicht nur die mit dem Arierparagraphen kollidierenden Studenten, sondern „alte Herren“ aus dem Philisterverbande hinaussetzt.

Damit war ein Strukturelement merkwürdigster Art gefährdet, nämlich das alte elitäre, aber auf Kameradschaft und Bruderschaft der Elite gerichtete Denken überhaupt. Wie kann ich den Philister meiner Verbindung, der der Bruderschaft angehört hat, nun in dieser seiner Stellung liquidieren, wenn ich nicht die Grundlagen dieses Denkens überhaupt in die Luft sprenge? Gleichwohl blieb auch hier der Widerstand zaghaft. Die Forderungen gingen außerordentlich weit. Was hier lange vor den Nürnberger Gesetzen gefordert wird, ist nicht nur das Hinaussetzen des Juden oder des, wenn wir hier den Rasseunfug übertragen wollten, „reinrassigen Judenchristen“, sondern ist darüber hinaus der ganze Zinnober mit den jüdischen Großeltern. Wenn auch nur ein jüdischer Großelternteil vorlag, dann mußte er gehen. Auch diese Forderung wurde erfüllt. Zu Ehren dieses Bundesführers muß gesagt werden, daß er, wie mir die Akten zeigen, versucht hat, diesen Zwang mindestens einzuschränken und abzubiegen, wenn auch nicht generell zu beseitigen, weil es ihm doch zu bös vorkam. Aber es blieb beim Versuch. Und als die Forderung abrupt auftauchte, da war die Antwort nicht die, die selbst im alten Elitendenken eigentlich selbstverständlich gewesen wäre und, wenn es noch strukturell in Ordnung gewesen wäre, auch selbstverständlich gekommen wäre, daß man dann sagt: „Wollt ihr uns dazu zwingen, dann ade! Dann geben wir halt den Betrieb auf, weil wir uns damit selbst in die Luft sprengen“. Sondern da war die Antwort die, daß man sich fügte mit der Hoffnung, in einzelnen Fällen noch abbiegen zu können und das Hinauswerfen der Betroffenen doch in möglichst freundlichen Formen zu vollziehen. Und damit war die moralische Kapitulation sozusagen des aus dem alt-elitären Denken des Korporationswesens in das elitäre Denken des Nationalsozialismus voll überführten Korporationsdenkens voll vollzogen. Und alles andere war Spielball und Konsequenz.

Wohlgemerkt, auch hier, auf daß ich nicht der Inobjektivität geziehen werde, bin ich der letzte, der behauptet, daß andere Punkte des gesellschaftlichen Lebensprozesses sich als wesentlich widerstandsfähiger erwiesen hätten. Ganz sicherlich nicht. Wie, um nur ein Beispiel zu nennen, nicht um Ihnen ein gutes Gewissen für all das zu geben, sondern um nur zu zeigen, daß dies schlechte Gewissen, das einem doch bei solchen sozusagen auch die letzten Reste der positiven Funktionen des alten strukturellen Denkens auflösenden Konsequenzen, das einem dabei hochkommt, nur um Ihnen zu zeigen, daß dies schlechte Gewissen eben nicht nur Sie trifft, sei daran erinnert, daß etwa die christlichen Gewerkschaften durch Jakob Kaiser, die Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften durch Ernst Lemmer, die freien Gewerkschaften durch Leuschner im Jahre 1933 sich nicht um ein Haar besser benommen haben. Sie haben kapituliert. Sie waren bereit, all ihre alten Bindungen um der Existenz des Verbandes willen in den Mond zu schreiben und haben das durch Erklärungen gegenüber dem Führer und Reichskanzler, Führer wurde er später, im Jahre des Heils 1933 zum Ausdruck gebracht. Und, wenn Sie so wollen, die gleiche sozialdemokratische Reichstagsfraktion, die sich beim Ermächtigungsgesetz später als Sie noch tapfer geschlagen hatte, hat dann wenige Monate darauf in ebenso jämmerlicher Weise moralischen Selbstmord begangen - in jenem Verhalten Paul Löbes, der die Fraktion dazu führte, Adolf Hitler am 17. Mai 1933 in einer Reichstagsabstimmung das Vertrauen auszusprechen.

Aber all diese dunklen Punkte, die zeigen, daß moralisches Entgleisen, und hier handelt es sich um moralisches Entgleisen, wenn man seine eigenen Moralgesetze, nach denen man angetreten ist, so verfremdet sie inzwischen sein mußten, verletzt, all dieses moralische Entgleisen in der deutschen Gesellschaft, das wir historisch und soziologisch analysieren und verstehen müssen, rechtfertigt nicht das Entgleisen, eben solches Entgleisen der anderen sozialen Gruppe. Für Sie und Ihre damaligen Bundesbrüder und ihre Verbandsführung ist Paul Löbe nicht als Entschuldigung zu verwerten. Wie umgekehrt für Paul Löbe nicht Ihre Verbandsführung. Aber damit war der Prozeß zur Konsequenz geführt. Was nachfolgt, sind nur Konsequenzen der Konsequenz.

Daß dann Ihr Verband zwar noch kämpft gegen die „Deutsche Glaubensbewegung“, ist nur dem Schein nach als Positivum zu werten. Denn das lag in den Gesetzen des Verbandes geradezu vorgezeichnet. Zu einem Parallelkampf aber, auch gegen die hirnverbranntesten Entartungen der „Deutschen Christen“ war der Verband als Verband nicht zu führen. Als ob die Diskussion etwa mit den Autoren jener Novemberkundgebung der „Deutschen Christen“ in Berlin auch nur irgend etwas mit innerchristlicher Auseinandersetzung hätte zu tun haben können? Davon war objektiv gar nicht die Rede.

Trotzdem war der Verband als Verband noch nicht einmal zur Identifikation mit der jungreformatorischen Bewegung zu führen, so lahm, so politisch kapitulantenhaft diese jungreformatorische Bewegung in ihren Ansätzen war.

Daß gleichwohl aus Ihrem Verbande dann auch andere Männer hervorgegangen sind, sei nicht bestritten. Genauso sind auch aus der gleichen kapitulierenden Gewerkschaftsbewegung dann Männer hervorgegangen, die nun ihre eigene Schande zu überwinden vermochten wie Leuschner. Ihre Schande des April 1933 und des Mai 1933. Das spricht für diese Männer, die das vermochten, nicht für den Verband, der diese Kraft nicht aufbringen konnte.

Und so sind wir am Ende dieser Betrachtung. Sie sehen, wie ein Verhängnis der deutschen Geschichte zum Verhängnis des deutschen Korporationswesens wurde, wie eine politisch-soziale Identifikation mit den geistigen Ansätzen, die man zu vertreten vorgab, gar nichts zu tun haben konnte. Die Identifikation, bei Ihnen wie in der Kirche vollzogen in der Form des Staatskirchentums, bei Ihnen zusätzlich vollzogen in der Identifikation mit dem „Alldeutschen Denken“, durch dies Verhängnis der deutschen Geschichte sicherlich vermittelt, durch soziale Strukturen vermittelt, die nun einmal ihre Eigengesetzlichkeit besitzen, vermittelt durch das organisierte Gefrieren solcher Strukturen, nämlich in der Form der Verbindung der „Alten Herren“ zu den jungen Studenten, hat hier zu einer Entwicklung geführt, die eine Studentengeneration, die Studentengeneration der Weimarer Republik, die drei Generationen, die hier groß wurden, des kritischen Selbstbestimmungswillens beraubte, zu Instrumenten einer entmenschten Entwicklung herabwürdigte und am Ende verbrauchte.

In Wirklichkeit ist alles das, was im 2. Weltkrieg geschah, in seiner Unmenschlichkeit von deutscher Seite mitgetragen von allen diesen Schichten, wenn häufig auch ohne persönliche Identifikation, wie das traurige Ende nichts als die Konsequenz dieser Entwicklung ist.

Das Problem, das dadurch aufgeworfen ist, scheint mir darin zu bestehen: Ist es möglich - das ist eine Frage, die man nur praktisch, nicht theoretisch beantworten kann - , ist es möglich, dem Zwang solcher Kontinuitäten in den gleichen gesellschaftlichen Formen noch zu entgehen? Ich will Ihnen den Optimismus nicht rauben, daß Sie das durch die Praxis als möglich erweisen werden, denn was wirklich ist, das wäre zweifellos dann auch möglich.

Mir als politischem Soziologen, der ich bin, steht es zu, Sie nicht auf die Unmöglichkeit dieses Prozesses zu verweisen - unmöglich ist in dieser Welt wenig -, sondern Sie auf die Gefahren eines solchen Prozesses zu verweisen, auf die Gefahren, die sich unzweifelhaft gar nicht so sehr aus Ihrer Mitte und aus Ihren Formen, sondern sich unzweifelhaft aus der Verbindung mit einer belasteten, aus der organisierten Verbindung mit einer belasteten Generation ergeben und weithin ergeben müssen.

Hier kommen wir in einen Prozeß hinein, auf den ich Sie hinweisen muß. Wohlgemerkt, mir steht es nicht zu, Ihnen zu sagen, die kritische Lösung der Aufgabe sei nicht möglich. Nach meiner Meinung ist sie auch objektiv möglich, wenn auch nur mit geringem Wahrscheinlichkeitsgrad bei Aufwendung ungeheuerlicher geistiger und moralischer Energie, kritisch-intellektueller wie ethischer Energie. Aber auf die Gefahren darf ich Sie wohl auch hier hinweisen, die Gefahren, die sich in der Wiederherstellung alter Bewußtseinslagen, wenn auch in neuen ideologischen Formen, aber in Wirklichkeit der ganzen alten Bewußtseinslage, wieder in der Sozialschicht ergeben, die in Ihrem Fall wieder konkret vermittelt durch die Altherrenorganisationen auf Sie einwirken muß.

Ich könnte auf die Gefahren in dieser Richtung sozusagen in der „christlich-abendländischen“ Umformung obrigkeitsstaatlicher Denkformen in der Theologie und zum Teil auch deutschchristlicher Denkformen in der Theologie verweisen, obrigkeitsstaatlicher aus der alten jungreformatorischen Bewegung heraus. Ich weiß, daß diesen Gefahren sehr kritische, sehr wache lebendige Tendenzen in der Theologie entgegenstehen, und kaum eine Organisation, wenn ich jetzt wieder als politischer Soziologe spreche, hat eine solche Virulenz eines derartigen geistigen Auferstehungsvorganges erlebt wie die protestantische Kirche und gerade die protestantische theologische Fakultät in vielen Fällen. Aber die Gefahren bestehen. Sie gehen von dort wie in viel schwerwiegenderem Maße vom unmittelbar politisch-sozialen Prozeß aus.

Ich weiß nicht, wie viele von Ihnen die Berichte über die Tagung zur Rechtsprechung zu Fällen der Bewältigung nationalsozialistischer Vergangenheit, die die Evangelische Akademie in Loccum vor kurzem veranstaltet hat, gelesen haben. Dann würden Sie sehen, daß eine Staatsanwältin mit Recht darauf hinweisen konnte, leider mit Recht, daß in der deutschen Justiz, die wir haben, ein Judenmord durchschnittlich 10 Minuten Freiheitsverlust kostet, nach der statistischen Aufrechnung der Urteile, die die bundesdeutsche Justiz zu solchen Problemen gegeben hat. Auf der gleichen Tagung mußte die gleiche Staatsanwältin darauf hinweisen, daß die Verfolgung von Mördern der nationalsozialistischen Zeit leider auf dem normalen Weg des höheren Kriminaldienstes unmöglich sei, weil man gewiß sein könne, daß dank der Kameraderie dieses Dienstes, und hier handelt es sich um akademische Dienststellen im höheren Kriminaldienst, nach ihrer Erfahrung derjenige, den man suche, sobald er im Fahndungsblatt erscheine, sofort gewarnt sei. Das war eine Staatsanwältin der Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufdeckung nationalsozialistischer Verbrechen, und ich glaube, eine Staatsanwältin, die einfach aus der Praxis und unreflektiert Fakten berichtete.

Solche Elemente zeigen sich nicht nur hier in der deutschen Gesellschaft unvermeidlich. Ich möchte das erwähnt haben, um Ihnen die vielfältigen Verkleidungsformen des deformierenden Druckes auf das kritische Bewußtsein einer jungen Studentengeneration deutlich zu machen. Mehr ist, glaube ich, nicht meines Amtes, und damit möchte ich jetzt schließen und Ihre Diskussion einleiten.

In: TOPOS, Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie, Heft 12 (Bildung), Bielefeld 1999, S. 133-141

*1) Der von Wolfgang Abendroth in freier Rede gehaltene Vortrag stellt eine leicht überarbeitete Abschrift der Tonbandaufnahme dar. Seine Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Frau Dr. Lisa Abendroth.

   
 
 

Helmut Ridder (*1919) Download als PDF
   
 
Rede am 7. Mai 1985

Es fällt mir zu, auf dieser Sondersitzung der Stadtverordnetenversammlung unserer Universitätsstadt, zu der Sie mich freundlichst eingeladen haben, einen Vortrag zu halten zu einem Thema, über dessen Fassung wir uns zunächst noch einige Gedanken machen müssen. Der Tagesordnungspunkt heißt ‘40-jährige Wiederkehr des 8. Mai 1945 - Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland‘. Das ist ein geschichtliches, ein zeitgeschichtliches Thema; und weil es ein geschichtliches Thema ist, ist seine Fassung unvollständig. Vergegenwärtigen wir uns: Wir leben, wie alle anderen europäischen Völker, in einer Zivilisation, die, im Unterschied zu manchen anderen Zivilisationen, etwa des Fernen Ostens, von ihren Anfängen an aufgrund ihrer jüdisch-christlichen, klassisch-humanistischen Prägung in einer ganz spezifischen einzigartigen Weise auf die Wachheit eines hochentwickelten geschichtlichen Bewußtseins angewiesen ist, von dessen Vorhandenseins sogar die Erhaltung ihrer Identität abhängt. Es ist eine Zivilisation auf biblischer Grundlage, eine Zivilisation, nach deren Ur-Konzept die Menschheit nach dem Prolog im Paradies in die Geschichte entlassen worden ist, um sich die Erde untertan zu machen, und dafür, wie sie das tut, bis zum Ende der Geschichte rechenschaftspflichtig bleibt - die im engeren Sinne religiösen vor Gott als dem Herrn der Geschichte, die im Laufe der Geschichte entstandenen säkularisierten Denominationen und fruchtbaren Häresien vor der Geschichte selbst (das macht für uns keinen Unterschied, wir sind hier nicht in der Kirche, sondern in einer politischen Versammlung, in einem Raum, der im Zuge der Entfaltung unserer Zivilisation seine relative Autonomie gewonnen hat).

Geschichte ist etwas anderes als eine Summe von Geschichten, über die man das Wort ‘damals‘ schreiben und die man damit gewissermaßen „abhaken“ könnte. Wer hätte das nicht selbst in diesen letzten Monaten, Wochen, Tagen und Stunden miterfahren, als es um jenes auf den 8. Mai 1985 orientierte Arrangement von Veranstaltungen aus Anlaß des amerikanischen Staatsbesuchs ging, als aus tiefsten Tiefen, von deren Vorhandensein die Jüngeren vielleicht großenteils gar keine Ahnung gehabt haben, Haß, Wut, Erbitterung, Feindseligkeit nach innen und nach außen, quer durch Familien und diagonal durch die Generationen hindurch in einem unerhörten Ausmaß emporbrachen? Wer würde wohl ruhigen Gewissens sich und andern vormachen können, das wäre nun auch vorbei und der Alltag würde wieder wie nach einem Sturm im Wasserglas einziehen? Wer fürchtet denn wohl nicht - und ich sage mit vollem Recht -‚ daß das, was da in diesen Wochen geschehen ist, von allergrößtem Einfluß auf den internationalen moralischen Kurswert der Bundesrepublik Deutschland sein wird? Wer das dennoch nicht täte, der würde allerdings - und jetzt muß ich ein sehr hartes Wort aussprechen - dieselbe Indolenz an den Tag legen, die für einen Großteil der west-, später bundesdeutschen Bevölkerung und ihrer politischen Elite charakteristisch war, die sich erweist an der Art und Weise, wie mit dem 8. Mai 1945 umgegangen worden ist und damit wieder die Ursache für das teilweise geradezu makabre Geschehen geworden ist, dessen Zeugen wir in diesen Tagen sind.

Ich bin damit bei dem schon angesprochenen Punkt, nämlich bei der Erweiterung des Themas, die in einer Frage besteht, der Frage nämlich, wovon das „Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland“, das zweifellos und unbestreitbar am 8. Mai 1945 infolge des militärischen Siegs der Alliierten eingetreten ist, der Anfang war, und damit bei der Frage, ob dieser 8. Mai 1945, wie man oft sagt, wirklich die „Stunde Null“ bedeutet, und wenn ja, ob an dieser „Stunde Null“ nachträglich etwas verändert worden ist, und wenn ja, was die Gründe dafür sind, und wenn es tragende Gründe gibt, wie weit sie zurückreichen - womit sich der Kreis der von Herrn Professor Knauß angestellten Betrachtungen schließen würde.

Wie er habe ich einen politisch-zeitgeschichtlichen Gegenstand wissenschaftlich zu behandeln. Daß Politik der wissenschaftlichen Behandlung zugänglich ist und als sog. Kunst des Möglichen verkommt, wenn sie von der Wissenschaft abgesondert bleibt, hat sich in letzter Zeit herumgesprochen. Weniger gern wird gehört, dass Politik und Wissenschaft unterscheidbar, aber nicht trennbar sind; das gilt weithin als Politisierung von Wissenschaft. In Wahrheit aber erfolgt jede wissenschaftliche Äußerung von einem politischen Standort, wird sie von einem politischen Erkenntnisinteresse determiniert, auch wenn der Herold meint, in einem elfenbeinernen Turm zu sitzen; auch die vermeintlichen Elfenbeintürme stehen in einer konkreten Gesellschaft, nur schließen willentlich oder unwillentlich die Turmbewohner ihre Augen davor.

Was nun die m.E. allein zu rechtfertigende Standortbestimmung bei der Behandlung unseres Themas angeht, zögere ich nicht, sie zu nennen und das Genannte auch zu meinen. Letzteres, das Meinen, ist dabei das entscheidende; denn mit dem Nennen scheint man offene Türen einzurennen, handelt es sich doch schlicht und einfach um das demokratische Prinzip, das die bürgerlichen Gesellschaften in Westeuropa durch revolutionäre Tat in konkrete Staatsformen und Regierungssysteme umgesetzt und als politische Kultur gelebt haben. Erinnern wir uns bitte daran, daß bis zum Jahre 1918 demgegenüber in Deutschland gigantische und erfolgreiche offene Abwehrschlachten gegen die Demokratie geführt worden sind: „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten!“ Dem folgte 1918 ein aufgefangener und kanalisierter Revolutionsversuch, der nicht etwa deswegen schon ein Durchbruch zur Demokratie gewesen ist, weil die Monarchen aufs Altenteil geschickt wurden, was übrigens eine Bedingung des amerikanischen Waffenstillstandsultimatums, also „aufgezwungen“ gewesen ist. Als „aufgezwungen“ angesehen hat auch die Mehrheit der Deutschen, die das Sagen hatten, die also zur „politischen Klasse“ gehörten, den Parlamentarismus, das einzige für das Eindringen von Demokratie geöffnete Fenster des politischen Systems von Weimar, dessen Regierungen etwa die Hälfte des kurzen Lebenstages der Weimarer Republik mit dem Diktaturartikel 48 der Reichsverfassung ihren Wille durchzusetzen versucht und weitestgehend durchgesetzt haben, mit einem Artikel, aufgrund dessen der Reichspräsident als „Ersatzkaiser“ erschien (in Wahrheit waren seine Vollmachten noch größer als die der wilhelminischen Regenten). Es ist eine nur zu gern geglaubte, aber durch den Glauben eben nicht zu beweisende Legende - Legenden spielen eine unendlich verhängnisvolle Rolle bei fast allen Versuchen, den Ehrlichen wie den Unehrlichen, zu erklären, wie es zu jener sog. Machtergreifung Hitlers gekommen ist - ‚ es ist eine Legende, sage ich, daß Weimar auch nur im engeren staatsorganisatorischen Bereich praktizierte Demokratie gewesen sei, von der Frage gesellschaftlicher, sog. sozialer Demokratie ganz zu schweigen. Längst vor dem 30. Januar 1933 war es bei den Eliten und auch in großen Teilen der an sich mit irgendwelchen demokratischen Konzepten umgehenden politischen Parteien eine ausgemachte Sache, daß das undeutsche Experiment zu Ende gehen müsse, und nur auf dieser Grundlage konnte den Nazis die Staatsmacht förmlich in die Hand gedrückt werden, und von dieser Grundlage aus versteht es sich, daß die „Machtergreifung“ eine Jubelfeier wurde und nichts von dem stattfand, was hätte stattfinden müssen und hätte stattfinden können, wenn der demokratische Gedanke Fuß gefaßt hätte, nämlich von einem Generalstreik. Der mit dieser Feststellung verbundene Vorwurf trifft ausnahmslos alle politischen Kräfte von Weimar, freilich die Wegbereiter und Steigbügelhalter, die Profitmacher und Machtergreifungsgewinnler um ein vielfaches mehr als diejenigen, die sogleich zu den Opfern gehörten.

Meine Damen und Herren, wenn ich gerade das Wort „Vorwurf“ gebraucht habe, so bitte ich auch dies als eine wissenschaftliche Qualifizierung zu verstehen, die nicht mit individuellen Schuldzuweisungen zu verwechseln ist. Für solche gibt es andere Instanzen als die Geschichte; von ihnen ist hier nicht zu sprechen. Wir suchen vielmehr nach den Gründen, die die Zuweisung kollektiver politischer Verantwortung rechtfertigen. Und für eine solche Verantwortung, die, selbst wenn sie erkannt und verarbeitet wird, nicht einmal in einer Generation abgebaut werden kann, und die niemals abgebaut wird, wenn sie nicht erkannt und verarbeitet wird, spielt es keine Rolle, ob jemand „damals“ 15 Jahre alt oder jünger gewesen ist oder noch gar nicht geboren war. Ich sage jetzt schon, daß diese schmerzhafte Erkenntnis, ohne die es keine demokratische politische Kultur geben kann, in den 40 Jahren seit dem 8. Mai 1945 bis zum 8. Mai 1985 nicht Gemeingut der „politischen Klasse“ und der Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung geworden ist. Und ich sage gleichzeitig noch etwas zur Ergänzung des Begriffs von Geschichte. Geschichte besteht aus Ereignissen, das sind jene „Geschichten“, und sie besteht aus Nicht-Ereignissen. Die „Wahl“ der Nicht-Ereignisse, die wir für entscheidend halten, ist ein bewertender Akt, der von dem politischen Standort, hier also von dem der Demokratie, her erfolgt; dies ist gleichzeitig der so unendlich mühsame Prozeß, den man das „Lernen aus der Geschichte“ nennt und dem die Wissenschaft beistehen kann (natürlich nicht garantiert irrtumsfrei, doch kann sie immerhin ihre Irrtümer auch als Irrtümer erkennen und läßt sie Geschichte nicht als ein Chaos von Zufällen erscheinen). Ich habe hier nichts von den unvorstellbaren und doch von Menschen begangenen Greueln unter dem Nazi-Regime nachzuzeichnen. Doch möchte ich an das Wort „unvorstellbar“ eine, wie mir scheint, wichtige Bemerkung anknüpfen. Es tritt, Alexander Mitscherlich und andere haben uns das deutlich gezeigt, vor allem, wenn das in Permanenz organisierte Staatsverbrechen die Sphäre des absolut Bösen erreicht hat, u. U. für eine ganze Nation ein pathologischer Befund ein, mit dem die Psychoanalytiker und Psychotherapeuten sonst nur bei einzelnen zu tun haben. Das ist die Verdrängung des selbst für die Täter unerträglichen Teils ihrer selbst auf andere, weil sie sonst selbst nicht leben könnten, die Herstellung des Sündenbocks, der für das Übel der Welt verantwortlich gemacht wird. In diesem pathologischen Zustand der Abspaltung, Verdrängung, Verschiebung und Projizierung auf andere haben die Deutschen schon im „Dritten Reich“ gelebt. Das erklärt nicht alles, aber es erklärt einen sonst unerklärlichen Rest, der bleibt, wenn man alle anderen Elemente, die tradierte Demokratiefeindschaft, den tradierten Antisemitismus, den tradierten Antikommunismus, die Skrupellosigkeit beim keuchenden Hochstoßen zu einer Politik deutscher „Weltgeltung“ usw. zusammenzählt, die zu den Ursachen des hier und nirgendwo anders realisierten Nazi-Staats gehören. Daß die Propagandamaschinerie des „Dritten Reiches“ diese Traumatisierung bewußt in ihren Dienst gestellt hat, ist hier nicht weiter zu verfolgen. Aber wichtig für uns ist, daß eine ganze derart traumatisierte Nation eben nicht wie ein Patient auf die Couch gelegt werden kann und daß nicht ersichtlich ist, daß am 8. Mai 1945 eine Wunderheilung erfolgt sein könnte. Es hat auch nicht am 8. Mai 1945 das Wunder einer durchgreifenden Erneuerung der politischen Ideologie der Deutschen im Sinne von Demokratie gegeben. Am 8. Mai 1945 hätte es ja frühestens passieren können. Denn bis zum 7. Mai 1945 haben die Deutschen in ihrer Gesamtheit keinen Widerstand geleistet, weder das Bürgertum noch die Arbeiterklasse. Deutscher Widerstand war ein inselhaftes Phänomen geblieben. Dies festzustellen, mindert nicht die Ehre derjenigen, die tatsächlich Widerstand geleistet haben, es kann nur dazu beitragen, dieser Leistung noch nachträglich einen Sinn abzugewinnen.

Innen- und Außenpolitik sind immer nur zwei Seiten ein und derselben Medaille. Lassen Sie mich bitte noch einmal ganz kurz zusammenfassen, was für eine außenpolitische Katastrophenpolitik die dem Ausland weniger als uns vergeßliche andere Seite unserer inneren Mentalitätsstrukturen gewesen ist. Nach dem Geschichtspensum der Normalschule von Weimar, die ich besucht habe, haben vor dem Ersten Weltkrieg die westeuropäischen Länder den leider zu spät gekommenen Deutschen bei der kolonialen Verteilung der Welt ihre späten Erfolge geneidet, sich also unserem Bemühen um einen „Platz an der Sonne“ widersetzt (so hieß das; ob den Wortführern der heutigen Aktion „Platz an der Sonne“ die historische Belastung bewußt ist?). Dagegen haben wir dann endlich 1914 zur Tat ausholen müssen („Gott strafe England!“). Die Wahrheit über die Kriegsursachen haben die Untersuchungsinstanzen, wohlgemerkt der Weimarer Reichsrepublik, nicht ans Licht kommen lassen. Das blieb einem Historiker wie Fritz Fischer überlassen, dessen Untersuchungen sich nur mit großer Mühe einen „Platz an der Sonne“ haben verschaffen können. Wir haben also nach der damals geläufigen Doktrin mit dem Ersten Weltkrieg einen gerechten Verteidigungskrieg geführt und ihn deswegen ungerechterweise verloren. Das System von Weimar - Genf - Versailles hat man uns aufgezwungen, und damit haben die Sieger von 1918 die Schuld am Zweiten Weltkrieg auf sich geladen. Daß der nämlich kommen mußte, war auch in der Reichsrepublik von Weimar schon projektiert, die die Schwarze Reichswehr organisiert hat und die die Grenzen der Nachbarn im Osten nicht durch einen Ost-Locarno-Vertrag garantieren wollte. Mit Hitler ging‘s dann nur schneller.

Wie man post festum mit diesem Phänomen Hitler umgeht, zeigt die weit verbreitete Verdrängungssprache. Ich komme nicht umhin, dazu einen Satz des derzeit amtierenden Bundeskanzlers zu zitieren, weil er geradezu repräsentativ ist für das Verdrängungsphänomen. Gesprochen wurde dieser Satz im vergangenen Jahr in Oxford vor einem darob versteinernden, die Sprache verlierenden Publikum (man täusche sich nicht über das beredte Schweigen eines ja aus „Freunden“ bestehenden Publikums, das um der „Freundschaft“ willen oft so tut oder so tun zu müssen meint, als ob es nicht gehört hätte). Der Satz gilt den 12 Jahren von 1933 bis 1945 und lautet: „Dann kamen die Jahre der Heimsuchung“. Das ist sicher eine biblische Assoziation. Wir sehen, wie der große Dulder Hiob im Auftrage einer höheren Macht durch eine böse Macht schwer geprüft wird, die eigentlich gar keine deutsche war! Das Ungeheuer ist nicht dem eigenen Schoß entkrochen. Es kam irgendwo her. Es war eine böse Macht, die „im deutschen Namen“ all die schrecklichen Dinge getan hat. Darf man fragen, wie es kommt, daß selbst Mitbürger, die sich mit demokratischen Denkansätzen der Politik nähern, diesen entsetzlichen Ausdruck „im deutschen Namen“ gebrauchen, der aus einem Unterbewußtsein kommt und im Unterbewußtsein gleichzeitig wieder befestigt, daß andere den deutschen Namen mißbraucht hätten? Da ist er wieder, dieser Verdrängungsmechanismus, der die Aufarbeitung blockiert, die zu den unerläßlichen Voraussetzungen für die Herausbildung eines normalen bürgerlich-demokratischen Bewußtseins und damit des realen, nicht nur vorgetäuschten oder eingebildeten Eintritts in die westeuropäische Staatenfamilie gehört.

Noch beklemmender wird der Befund, wenn wir uns genauer ansehen, wie die Schandtaten Nazi-Deutschlands im einzelnen der Sache und dem Gefühl nach ganz unterschiedlich qualifiziert werden. Lautstark gilt auch die amtliche Verurteilung der gnadenlosen Ausrottung der Juden im immer größer gewordenen Machtbereich Nazi-Deutschlands (die Untersuchungen über die mittelbare Veranlassung der Judenverfolgung in den Satellitenstaaten sind noch gar nicht abgeschlossen). Man darf nicht nur, ja man muß, um die hingemordeten jüdischen Opfer vor nochmaliger Erniedrigung zu retten, fragen, warum das antisemitische Wüten möglicherweise „schlimmer“ gewesen sein soll als die Ermordung von nichtjüdischen Widerstandskämpfern, von Kommunisten, von verhungernden sowjetischen Kriegsgefangenen usw. Es gibt eine Antwort, die man, wenn man angestrengt auf Neben- und Untertöne lauscht, hören kann, obwohl sie nie artikuliert wird. Und diese Antwort ist erschütternd: Die Juden wurden aus sog. rassischen Gründen umgebracht, also auch soweit sie - und das gilt für den größten Teil der Ermordeten - keinen Widerstand geleistet hatten, ja sogar vielleicht aus nur eben diesen „rassischen Gründen“ verhinderte Sympathisanten eines jedenfalls nicht sonderlich demokratischen, eher autoritären Regimes waren. Kommunisten aber wurden umgebracht, weil sie „politische“ Gegner waren, weil sie Widerstand geleistet hatten. Wie ist es zu rechtfertigen, daß um diesen kommunistischen Widerstand bestenfalls amtliches Stillschweigen gebreitet wird? Da gilt die Verfolgung eher als ein „Exzeß“; man hätte eben weniger hart mit diesen Menschen umgehen müssen, die doch zu denen gehören, die durch ihren Widerstand ein Stück wenigstens der deutschen nationalen Ehre gerettet haben.

Die praktischen Konsequenzen aus dieser Bewußtseinsspaltung sind makaber und grotesk. Ich erinnere an den weit über die Landesgrenzen, ja weltbekannt gewordenen hessischen Berufsverbotsfall, wo eine kommunistisch organisierte junge Lehrerin aus einer naziverfolgten deutsch-jüdisch-kommunistischen Familie ihre Einstellung in den Schuldienst durch ein exakt rechenhaftes, geradezu mustergültiges bürokratisches Verfahren folgendermaßen erreicht hat: Ein Malus für das Kommunistische - und das heißt heute zweifelsohne für eine legale politische Betätigung davon subtrahiert ein etwas kleinerer Bonus für das Jüdische, für die „rassische“ Verfolgung der Familie - ergibt: unter abwägender Berücksichtigung von Be- und Entlastung immerhin eine Einstellung, aber eben nicht im Beamten-, sondern im Angestelltenverhältnis. Vielleicht muß man sogar noch viel tiefer bohren, bis in die tiefsten Falten der unterbewußten Kollektivseele. Das ist besonders schmerzhaft, aber ohne diese Schmerzen kann es gar keine Sanierung geben: Verläuft die postume Ehrung der jüdischen Opfer vielleicht nur deswegen so frei von Zwischenfällen, weil es fast gar keine Juden mehr gibt? Weil die wenigen Überlebenden es großenteils vorgezogen haben, nicht nach Deutschland zurückzukehren? Weil es einen Staat Israel gibt, der auch gegründet wurde um dem jüdischen Holocaust Spuren eines geschichtlichen Sinnes abzugewinnen, und der durch den Abschluß eines frühen Vertrages mit der Bundesrepublik Deutschland dieser die Wiederaufnahme in den Kreis der zivilisierten Staaten ermöglicht hat? Ich wage mich kaum zu fragen, wie es wäre, wenn das großenteils anders wäre und in einer Zeit der ökonomischen Rezession und der zunehmenden Ausländerfeindlichkeit jüdische Konkurrenzen in den diversen Sektoren des gewerblichen und beruflichen Lebens zahlenmäßig ins Gewicht fallen würden.

Ich spreche das gerade am Vorabend des 8. Mai 1985 verabschiedete schandbare Gesetz betreffend die Auschwitzlüge usw. an: Wie nach der bisherigen Rechtsprechung soll auch weiterhin ermittelt werden, ob das Verbreiten der entsprechenden Geschichtsfälschungen beleidigend für die Opfer, also beispielsweise für die jüdischen Opfer sei. Wer aber ist „Jude“? Die Definition enthält nur eine Gesetzgebung, das ist die Gesetzgebung von Nürnberg aus dem Jahre 1935, seinerzeit vorbereitet und erläutert von dem nachmaligen Staatssekretär des ersten Bundeskanzlers, Hans Globke. Es ist jetzt still um ihn geworden. Aber es ist allen Ernstes darüber gesprochen worden, daß er eigentlich ein Widerständler sei, hat er doch durch das sorgfältige Ausfeilen der Kriterien für sog. Halb- und Vierteljuden, wie man sagte, vielen Menschen das Leben gerettet. Ist das nicht eine unfassbare Ungeheuerlichkeit?

Ich spreche die heutige Strafgesetzgebung gegen die Verbreitung und Aufbewahrung nationalsozialistischer Embleme an: Die zahlenmäßige Hauptmasse dieser Embleme ist rechtzeitig im Wege der Bewußtseinsspaltung und Verdrängung dem Zugriff dieses Strafrechts entzogen worden. Das sind nämlich die vom „Dritten Reich“ verliehenen Kriegsorden. Sie dürfen getragen werden, wenn das Hakenkreuz auf ihnen ausgewetzt ist. Der Vorgang ist bezeichnend dafür, daß jener wichtige Unterschied zwischen individueller Schuld und kollektiver politischer Verantwortung in unserem gesellschaftlichen Bewußtsein überhaupt nicht vorhanden ist. Diese Orden werden getragen auf der Grundlage eines spaltenden und gespaltenen Bewußtseins, für das ein unteilbar verbrecherischer Krieg in einem honorigen und einen verbrecherischen Teil zerlegt werden kann und nur der honorige Teil stattgefunden hat, der nicht gewesen ist. Fiktive ersetzt die reale Geschichte.

Mir scheint nach alldem, daß beispielsweise das Zentralkomitee der Deutschen Katholiken mit seiner in diesen Tagen den Medien übergebenen Erklärung falsch liegt, wonach der 8. Mai 1945 ein „Ausgangsdatum für die geistige und sittliche Erneuerung unserer politischen Kultur“ gewesen sein soll. Kein Zweifel, daß die „bedingungslose Kapitulation“ von diesem Tage nach den Vorstellungen der Siegermächte ein solches Ausgangsdatum werden sollte. Die „bedingungslose Kapitulation“ war auch eine notwendige Voraussetzung für einen möglichen Eintritt einer solchen Erneuerung. Kein Zweifel auch, daß so etwas wie eine „Entfaschisierung“ stattgefunden hat. Was aber fehlte und auch nicht durch die in Durchführung und Wirkung sogar höchst nachteilige bürokratisierte „Entnazifizierung“ ersetzt werden konnte, in deren seltsamen Maschen die kleinen Fische hängenblieben, während die großen durchschlüpfen konnten, war die Erneuerung im Sinne von Demokratie. Es kann kein Volk zur Demokratie befreit werden. Es kann sich nur selbst dazu befreien. Die Chancen waren gegeben. Sie wurden zu einem erheblichen Teil vertan, weil die Kräfte - verständlicher-, aber nicht verzeihlicherweise - für die möglichst schnelle Wiederherstellung eines normalen Alltags mit einem restaurativen System verbraucht wurden, das lediglich den sog. „typisch nationalsozialistischen“ Einrichtungen des „Dritten Reichs“ zu Leibe ging, aber nicht mit dem alten Antidemokratismus aufräumte, der die Geburt des „Dritten Reichs“ erst ermöglicht hatte. Was diesen angeht, wurde sogar die realitätswidrige Legende aufgestellt, Weimar sei am Übermaß von Demokratie zugrunde gegangen. Und seither war die Angst vor einem solchen demokratischen „Übermaß“ die maßgebliche Kraft bei dem Versuch, mit der Bundesrepublik Deutschland einen neuen deutschen Staat aus der Taufe zu heben. Das hatte dann die hier nicht weiter zu erörternden bekannten Folgen der weitgehenden Drosselung des Parlamentarismus, der Ausrottung der sog. plebiszitären Elemente, der ideologischen Umbildung repräsentativer Volksvertretung in Staatsrepräsentation, der Bevormundung des demokratischen Souveräns durch ein zum „Verfassungshüter“ eingesetztes Bundesverfassungsgericht, das durch die Praxis seiner unaufhebbaren Entscheidungen, die alle anderen Staatsorgane binden, also tatsächlich im Rang sogar über dem verfassungsändernden Gesetzgeber steht und den Gesetzgeber von bestimmten Sachgebieten praktisch aussperrt und ihn anleiten kann, ohne dafür politische Verantwortung tragen zu müssen, usw. Und es ist sicher auch falsch, um ein weiteres Beispiel aus den zahlreichen Erklärungen dieser Tage zu nennen, wenn die gutgemeinte und sicherlich mit viel Mühe ausgearbeitete Erklärung der beiden deutschen Pen-Zentren und der deutschsprachigen Autoren im Ausland zum 8. Mai sagt, daß die militärische Niederlage von damals einem verbrecherischen Regime ein Ende gesetzt habe, und dann hinzufügt, daß dieser Tag eine „geschichtliche Zäsur“ gewesen ist. Die „Zäsur“ bestand nur in der Beseitigung von „Exzessen“, aber nicht in der Ausschälung des tief sitzenden antidemokratischen Rückenstrangs, der in der deutschen politischen und Verfassungsgeschichte zurückreicht bis zum Scheitern des bescheidenen Revolutionsversuchs von 1848 und begonnen hat mit der diesem Zusammenbruch unmittelbar folgenden national-liberalen Kompromißlinie.

Den erst nach der Gründung der Bundesrepublik Geborenen oder ins Schulalter Gelangten muß, damit sie die Schwierigkeit der Lage und die Perspektiven unseres künftigen Verhältnisses zu unseren Nachbarn richtig einschätzen können, ein Umstand in seiner vollen Tragweite klar werden, der die Bundesrepublik von allen anderen europäischen Staaten unterscheidet und zugleich von Amts wegen das Fundament ihres ganzen Daseins ist und wiederum mit dem Zerrinnen der Möglichkeiten vom 8. Mai zusammenhängt. Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland war ja nicht von den Siegermächten vorgesehen, die die „bedingungslose Kapitulation“ des Deutschen Reiches vorgesehen und durchgesetzt haben. Sie ist ein Kind des Kalten Krieges. Sie ist also mit anderen Worten ein Frontstaat. Sie wurde mit Erlangung ihrer Souveränität in das westliche WEU-NATO-System eingebunden und hat die Existenzweite eines „normalen“ westeuropäischen Staates nie erfahren können. Sie hat die gerade genannten Vorgänge - aber damit steht sie allein – ideologisch hineinverarbeitet in die ihr vorausliegende deutsche Vergangenheit gerade auch des Deutschen Reichs unter dem Nazi-Regime und läßt, indem sie gleichzeitig die realitätsferne These von der Fortexistenz eines „deutschen Gesamtstaats“, mit dem sie selbst „identisch“ sei, hervorgebracht hat, dem Geschehen des Zweiten Weltkriegs eine Deutung angedeihen, mit der sie sich ins politische und moralische Abseits manövrieren kann, wenn sie dieses Selbstverständnis nicht sehr bald und völlig grundlegend ändert. Ich vereinfache, um das wesentliche klarer sagen zu können. Und ich verschätze mich kaum in der Annahme, daß davon gerade in diesen Tagen auch hierzulande etwas gespürt wird; der amerikanische Präsident wird es sehr viel früher und sehr viel härter zu spüren bekommen, wenn er heimgekehrt ist und seine Berater ihm vor Augen führen, welch einen Scherbenhaufen eine Politik falscher, mit gegenseitigen Erpressungen verbundener gegenseitiger Rücksichtnahmen zum 40. Jahrestag des 8. Mai 1945 angerichtet hat. Bei all dem ist nämlich zu berücksichtigen, daß in den USA, selbst wenn der Präsident Reagan heißt, die politische Rhetorik und das reale politische Wollen doch etwas weiter auseinanderliegen als in der Bundesrepublik Deutschland. Man muß, wenn man schon mit Biereifer und unangebrachter Plumpheit zum Westen gehören will, die Dinge mit den Augen des Westens sehen, die Realitäten wahrnehmen, die der bundesdeutschen Nabelschau verborgen bleiben. So haben selbst Mr. Reagan und seine beifallsfreudigen jugendlichen Zuhörer aus der Bundesrepublik Deutschland in Hambach in aller Freundlichkeit, abgesehen von der Erflehung von Gottes Segen, in der Sache völlig aneinander vorbeigeredet bzw. geklatscht. Mr. Reagan hat etwas von den Visionen vorgetragen, die er nachts in seinen Träumen hat und die er mutatis mutandis vor Exilkroaten, weißrussischen Legitimisten usw. verlautbaren würde und vor versehentlich eingeschalteten Mikrofonen gelegentlich äußert, die aber kein Bestandteil konkreter politischer Programme der mit der Verteidigung ihrer Hinterhöfe ausreichend belasteten amerikanischen sog. Supermacht sind, wohingegen die deutschen Zuhörer und ihre väterlichen Freunde aus diesen Äußerungen die Bestätigung einer grundlegenden Lebenslüge der Bundesrepublik Deutschland herausgehört haben. Die Juristen nennen sowas einen Dissens und wissen, daß daraus in der Regel nichts konkret Greifbares erwächst.

Weil darüber im Gegensatz zur amerikanischen in der bundesdeutschen Presse nichts zu finden sein wird und weil es einen hohen Erklärungswert für die Frage unseres Umgangs mit dem 8. Mai 1945 hat, möchte ich wenigstens hier etwas dazu sagen. Ich gehe dabei aus von der Aussage eines ehemaligen Waffen-SS-Angehörigen, der in diesen Tagen auf dem Bildschirm erklärte, er habe dafür gekämpft, daß die Sowjets nicht nach Bitburg hätten kommen können, eine der zahllosen Varianten des bekannten Briefs von Herrn Dr. Dregger an die amerikanischen Senatoren. Hier sehen Sie den Verdrängungsmechanismus auf einem seiner operativen Höhepunkte. Niemals hat die Sowjetunion auch nur ein Interesse daran gehabt, nach Bitburg zu kommen, und sie wäre auch nicht bis nach Berlin, Leipzig und Torgau marschiert, wenn sie nicht im Jahre 1941 von den Deutschen überfallen worden wäre. Die pathologische Bewußtseinsspaltung und Verdrängung löst die historischen Kausalketten auf und stellt die Realitäten auf den Kopf. Sie projiziert das, was man selbst getan hat, auf die, denen man es angetan hat. Sie fälscht auch diesen Angriffskrieg von unerhörter barbarischer Dimension um in einen gerechten Verteidigungskrieg. Und dann ist es natürlich wieder eine Ungerechtigkeit, daß man diesen verloren hat, und man pocht deswegen auf Wiedergutmachung der Ungerechtigkeit.

Begünstigt wurde diese Entfaltung pathologischer Einfalt durch das von keinem der westlichen „Freunde“ je geteilten Fehlverständnisses der Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO. Sie wurde in jenen Dunkelkammern des Bewußtseins gedeutet als nachträgliche Billigung des „Westens“ zum Überfall auf die Sowjetunion, ja gleichzeitig auch als das Eingeständnis des „Westens“, daß er im Zweiten Weltkrieg auf der falschen Seite gekämpft habe (das war allerdings auch die Auffassung Adolf Hitlers).

Das ging bis zum wohlwollenden Schulterklopfen, das sich ein Kind des Kalten Krieges erlaubt, das groß und ökonomisch und politisch und militärisch stark geworden ist, in der Tat ein „Riese“, um ein Wort des derzeitigen bayerischen Ministerpräsidenten zu gebrauchen. Der vom Schmerzenslager wieder aufgestandene eingebildete deutsche Hiob hat das immer betretener werdende Schweigen seiner westlichen „Freunde“ als moralische und juristische Stütze interpretiert, auch als Stütze der von ihm reklamierten „besonderen Verantwortung“ - gemeint ist ein besonderer Führungsanspruch - für die Gestaltung der kommenden Dinge in einem von den USA sich allmählich lösenden Europa. Man halte sich doch an den seriösen Journalismus in dem Lande jenseits des Atlantik, um sich eines besseren belehren zu lassen. Dann wird man mit dem erforderlichen Erschrecken auch feststellen können, was die durch antikommunistisch-staatsstreichartige Aktionen in den Gründungsjahren der Bundesrepublik Deutschland herbeigeführte Schrumpfung des bürgerlich-demokratischen Spektrums in der Bundesrepublik für eine Gefahr für uns und die Welt bedeutet. Sie hat ein großes humanistisches Erbe - von Goethe bis Thomas Mann - der Verachtung preisgegeben und ein dem „Westen“ nicht faßliches Klima erzeugt, in dem die Sensibilität für die Erfassung einer außerordentlich komplizierten Weltlage verloren geht. Da werden - rechts wie links übrigens - nur noch Holzschnitte in schwarz und weiß auf die Platte gebannt. Da wird dem nicht der antikommunistischen Raserei verfallenen Nichtkommunisten Prokommunismus unterstellt. Da werden die Geister des Kreuzzugs des vermeintlich absolut Guten gegen das vermeintlich absolut Böse mobilisiert. Wie ist das mit der Versicherung zu vereinbaren, daß von deutschem Roden nie wieder ein Krieg ausgehen darf?

Dient es der Verwirklichung dieses Schwurs, wenn der gegenüber der Sowjetunion gescheiterte Versuch einer Politik der Stärke nunmehr gegenüber den Amerikanern wiederholt wird, wenn z. B. die FAZ droht - ich zitiere wörtlich - : „Jene Amerikaner, die sich heute die Hirne vernebeln lassen, die vier Jahrzehnte einer gewachsenen Freundschaft bedenkenlos aufs Spiel setzen [...] sie werden es noch bereuen [...]“? Wenn die Amerikaner mit dem Vorzeigen von linkem und rechtem Anti-Amerikanismus unter Druck gesetzt werden? Wenn der Bundespräsident sagt, wir seien die treuesten der Bundesgenossen, „aber nur, wenn sie“, die Amerikaner, ich zitiere wieder wörtlich, „die Deutschen so nehmen, wie sie sind“, wo wir doch offensichtlich in einem so hohen Grade noch so sind, wie wir waren? Dient es der Verwirklichung des Schwurs, wenn gesagt wird, die „deutsche Frage“ sei solange „offen“, wie das Brandenburger Tor geschlossen ist oder könnte es nicht eher so sein, daß das Brandenburger Tor sich nur dann organisch zu öffnen beginnen kann, wenn die „deutsche Frage“ geschlossen wird? Warum haben wir stillschweigend den Artikel 146 unseres eigenen Grundgesetzes außer Kraft gesetzt (das ist der Artikel ‚ wonach ein Gesamtdeutschland nur aus dem Untergang der Bundesrepublik Deutschland hervorgehen kann)? Das liegt daran, daß der Verdrängungsmechanismus zu folgenreichen Verwechslungen geführt hat, was das sog. deutsche Provisorium angeht. Im öffentlichen Bewußtsein und als Bestimmungsfaktor von Politik ist wie gesagt der Artikel 146 des Grundgesetzes verschwunden, nach dem die Bundesrepublik sich einzubringen gehabt hätte; und an die Stelle getreten ist der Artikel 23 des Grundgesetzes, wonach die Bundesrepublik Deutschland sich nur noch durch den Anschluß anderer deutscher Territorien zu erweitern hätte. Der SPD-Abgeordnete Mommer hat seinerzeit nach der Angliederung des Saarlands in den 50er Jahren an die Bundesrepublik mit Recht erklärt, die historische Mission des Artikel 23 GG sei damit erschöpft. Der Berliner CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestags Professor Friedensburg hat mir schon Anfang der 60er Jahre händeringend geklagt, er fände bei seinen jüngeren Bundestagskollegen und Parteifreunden niemanden mehr, dem das nahegebracht werden könnte, und er wisse nicht, wie dem langsamen aber unentwegten Zusteuern auf eine neue Kriegskatastrophe im Zusammenhang mit der „deutschen Frage“ noch Einhalt geboten werden könne.

Ist es wirklich eine Zurücknahme tradierter Ambitionen und deutscher Großmachtpolitik, die kein Land der Welt teilt, wenn heute - ich zitiere den amtierenden Staatssekretär Dr. Hennig - gesagt wird: „Die deutsche Frage ist [...] in ihrem Kern kein territoriales Problem, sondern sie ist eine Frage der Freiheit. Solange die Freiheit nicht hergestellt ist, ist die deutsche Frage offen“? Mir scheint eher, daß damit sogar eine deutsche Weltmission proklamiert wird. Die „deutsche Frage“ wird so die Frage der Freiheit, die wir meinen, in allen Räumen, die wir meinen. Und das nach zwei Weltkriegen, die wir als Bannerträger der „Freiheit“ begonnen und geführt haben und von denen der zweite die jüdisch-christliche, klassisch-humanistische Zivilisation bis in ihre positiven Grundfesten erschüttert hat!

Blicken wir heute nach 40 Jahren auf den 8. Mai 1945 zurück, so müssen wir feststellen, daß der Neuanfang schon sehr, sehr früh steckengeblieben ist, daß die „Stunde Null“ rückwirkend nullifiziert worden ist und daß noch nicht begriffen worden ist, daß die Nullifizierung der Stunde Null nur dadurch nullifiziert werden kann, daß dieses unser Land sich damit bescheidet, seine Frontstaatsmentalität und seine antidemokratischen Anomalien abzulegen, um ein normaler bürgerlich-demokratischer Staat zu werden. Es ist zu hoffen, daß eine genauere Besichtigung des zum 8. Mai 1985 angerichteten politischen Scherbenhaufens die Gewinnung der dazu erforderlichen Erkenntnisse fördern wird. Das wird nicht ohne schwere und tiefgreifende Auseinandersetzungen vonstatten gehen können, bei denen der vielgepriesene Grundkonsens unter den etablierten Mächten auf einen Schleudersitz gerät. Das mag vielen als ein sehr hoher, ein zu hoher Preis erscheinen, den sie nicht zu zahlen bereit sind. Ich meine, daß dafür, daß ein erwiesener Kriegsherd im Herzen Europas endgültig kaltgestellt wird, kein Preis zu hoch ist, der ohne einen erneuten Rückfall in die Verfahren der Barbarei entrichtet werden kann. Möge es nicht noch einmal 40 Jahre dauern, bis wir, und das heißt für viele von uns, bis unsere Nachkommen dahin gelangen.

Vortrag von Professor Dr. Dr. h.c. Helmut Ridder zur Sondersitzung der Stadtverordnetenversammlung der Universitätsstadt Gießen aus Anlaß des 40. Jahrestages des 8. Mai 1945 am 7. Mai 1985, in: basis news extra (Februar 1988), S. 14-19.

 

 

 
 

Wolfgang Ruge (*1917) Download als PDF
   
 
Das Schicksal von Paul Levi. Bericht über sein Leben und Wirken

„Die größte Rede seit Lassalle“. Das notierte der Berichterstatter Carl von Ossietzky während eines Plädoyers vor dem Moabiter Schöffengericht am 22. April 1929. Rechtsanwalt Paul Levi, dem dieses Lob galt, war kein Donner schleudernder Volkstribun. Seine feinsinnige Rhetorik lebte von der analytischen Brillanz, von der verhaltenen Leidenschaft des Gerechtigkeitsfanatikers, nicht zuletzt vom Ideenreichtum. Seine bestechende Argumentation ließ keinen Zuhörer unbeeindruckt.

Levi verteidigte den Redakteur der Zeitschrift „Das Tagebuch“, Josef Bornstein. Die Anklage lautete auf Verleumdung. Erhoben war sie von Reichs wegen, also vom Staat, sozusagen im Auftrag der Allgemeinheit.

Hinter dem Rücken des Staatsanwalts versteckte sich auch noch ein Nebenkläger, der als Opfer posierende Reichsanwalt Jorns. Die Angelegenheit, die verhandelt wurde, war tatsächlich von allgemeinem Interesse, allerdings nicht in dem Sinne, wie es der Ankläger darstellte.

10 Jahre zuvor hatte der Nebenkläger Jorns, damals noch einfacher Kriegsgerichtsrat, die Untersuchung im Mordfall Liebknecht-Luxemburg an sich gerissen und die Mörder mit einer in der Rechtsgeschichte beispiellosen Unverfrorenheit gedeckt. Erfolgreich.

Bis auf zwei Ausnahmen waren alle Angehörigen des Mordkommandos, sämtlich Offiziere der berüchtigten Garde-Kavallerie-Schützen-Division, freigesprochen worden.

Die Ausnahmen betrafen einen einfachen Husaren, mit dem ohnehin noch eine Rechnung zu begleichen war, und einen Oberleutnant, dem schon zwei Tage nach der Urteilsverkündung ein Fluchtwagen vor das Gefängnistor gestellt wurde.

Jorns hatte die dringend des Mordes Verdächtigen in rund um die Uhr offenen Zellen unterbringen lassen, so dass sie nicht nur Zechgelage und Skatabende veranstalten, sondern auch ihre Aussagen aufeinander abstimmen konnten. Er selbst hatte mit ihnen gemeinsam ein Drehbuch des bevorstehenden Prozesses erarbeitet und nicht ins Szenario passende Protokolle kurzerhand aus den Akten herausgerissen.

Mehr noch: Die Inhaftierten durften nicht nur Damenbesuch empfangen, sondern konnten sich auch unkontrolliert in einigen Fällen sogar in Cafes am Kuhdamm mit reaktionären Presseleuten und obskuren Politschiebern über die Vorbereitung der Öffentlichkeit auf die Gerichtsverhandlung beraten.

 Diese Tatsachen waren jetzt von Bornstein in einem Artikel enthüllt worden. Dafür wollte ihn die Weimarer Republik, die noch heute im Rufe eines Rechtsstaates steht, büßen lassen. Verteidiger Levi ging jedoch zum Angriff über. Aus dem Fall Bornstein machte er einen Fall Jorns.

Im Feuer der Kreuzverhöre bewies er, dass alles, was sein Mandant über die Verdunkelung des Verbrechens geschrieben hatte, bis zum letzten I-Tüpfelchen der Wahrheit entsprach.

Damals, sagte er am Schluß seines Plädoyers, auf spätere politische Morde anspielend, begann ein schauerlicher Zug von Toten, gemeuchelt von Kreaturen, die Herr Kriegsgerichtsrat Jorns darüber belehrt hatte, dass Morden in Deutschland nicht identisch ist mit Bestraftwerden. Und dank dieser Belehrung konnte Jorns, der vergessen hatte, woher das Rot seiner Robe stammt, Karriere machen. „Meine Herren“, fuhr Levi fort, „hier glaube ich, hier treten diese Mauern und hier tritt diese Decke zurück. Hier ist ein Tag des Gerichts gekommen. Die toten Buchstaben, benutzt zu dem Zwecke, Schuldige zu schützen, und die vermoderten Knochen der Opfer: Sie stehen auf und klagen an den Ankläger von damals.

Bornstein wurde freigesprochen. Sein Anwalt mag man meinen, hätte zufrieden sein können. Aber dafür gab es keinen Grund. Blieben doch die Mörder und ihre Helfer weiter unbehelligt. Es war nicht einmal gelungen, die Öffentlichkeit wirklich aufzurütteln. Und vor allem, es ging ja Levi nicht um diesen einen Prozess.

Er war am Punkt seines Lebens angelangt, an dem er sich sagen musste, die Hoffnungen sind unerfüllt geblieben. Der Einsatz war vergebens. Ich bin gescheitert.

Die vorauszusehende Rehabilitierung des Jorns war ja nur ein winziges Symptom für das Zerbröckeln des Levischen Lebenswerkes. Übrigens erfolgte sie schon 10 Monate nach dem Moabiter Prozess. In einem nicht mehr anfechtbaren Berufungsurteil im Fall Bornstein bestritt das Reichsgericht zwar nicht, dass der jetzige Nebenkläger seinerzeit die Untersuchung im Mordfall Liebknecht-Luxemburg, so wörtlich, „bewusst vertuscht und verschleppt“ habe, doch konstatierte es, dass dies nicht „absichtlich“ geschehen sei und „Kollege“ Jorns folglich die Eignung besitze, das ihm nunmehr übertragene, verantwortungsvolle Amt in der höchsten juristischen Überwachungsbehörde des Reichs auszuüben.

Paul Levi überlebte die Verkündung dieses skandalösen Revisionsbefundes nicht mehr. Wenige Tage zuvor war er an einer schweren Grippe erkrankt, und hatte sich von fiebrigen Wahnvorstellungen heimgesucht, unter nicht völlig geklärten Umständen, aus dem Fenster seiner Wohnung gestürzt.

Niemand weiß, welche Gesichte dem Verzweifelten im Delirium der letzten Stunden erschienen. Vielleicht flackerten in der Erinnerung Revolutionsszenen, verlorene Freunde auf. Vielleicht wirbelten Satzfetzen aus einstigen Briefen Rosa Luxemburgs durch sein Hirn.

„Liebling“, hatte sie ihm einmal geschrieben, „die Sehnsucht würgt mich sehr, aber ich stürze mich doch gern in jedem freien Moment in ihre Arme, denn sie kommt von Dir.“

Ja, die Begegnung mit Rosa war der entscheidende Wendepunkt in seinem Leben gewesen. Zum ersten Mal hatte er sie auf dem Jenaer Parteitag 1913 getroffen. Er war damals seit 6 Jahren Rechtsanwalt in Frankfurt, hatte sich als Verteidiger sozial Schwacher und als Publizist einen gewissen Namen gemacht.

In der Sozialdemokratie tendierte er zum reformerischen Flügel, misstraute aber der basisfernen Vorstandsbürokratie. Ihm war es aus dem Herzen gesprochen, als Rosa Luxemburg in ihrer großen Parteitagsrede erklärte, die erste Voraussetzung für ernsthafte politische Führer einer Massenpartei sei ein überaus empfindliches Ohr für alles, was sich regt in der Seele der Massen.

Je näher er die von vielen Bewunderte, von vielen angefeindete Führerin der Linken kennenlernte, desto mehr faszinierte sie ihn. Ihre Persönlichkeit ließ ihn erkennen, dass revolutionäre Standhaftigkeit nicht nur nicht in Widerspruch zu Menschlichkeit und Empfindsamkeit steht, sondern nachgerade deren Konsequenz ist.

Kaum ein Thema blieb in den häufigen Gesprächen ausgespart, zu denen es kam, als Levi sie, gemeinsam mit Kurt Rosenfeld, im Februar 1914 vor dem Frankfurter Landgericht verteidigte, wo sie der „Wehrkraftzersetzung“ angeklagt war, weil sie an die Arbeiter appelliert hatte, im Fall eines Krieges nicht auf die französischen Klassenbrüder zu schießen.

Im intensiven Gedankenaustausch der beiden Träumer und Kämpfer, die sich der Menschheitskultur verbunden fühlten und für die Schönheiten dieser Welt offen waren, bahnte sich eine innige Beziehung zwischen ihnen an.

Ständig von Terminen gejagt, konnten sie sich in den folgenden Monaten, er in Frankfurt, sie in Berlin lebend, im Wust von Sitzungen, Versammlungen, Verhandlungen, meist nur wenige Freizeitstunden stehlen, um sich auszutauschen und miteinander aufzuatmen.

Auch nach dem Versanden der engen persönlichen Beziehung blieben Paul Levi und Rosa Luxemburg nicht nur Freunde, sondern geistig eng verbundene Gefährten.

1915 wurde Levi in die Armee gepresst, an der Front verschüttet, bald darauf dienstuntauglich erklärt und ging in die Schweiz. Von dort versorgte er die Strafgefangene Rosa Luxemburg, die kurz zuvor die in Frankfurt verhängte einjährige Haftstrafe antreten musste, mit ausländischen Zeitungen. Vor allem aber wusste er sich eins mit ihr, als er sich, auch persönlichen Kontakt mit Lenin aufnehmend, den in der Zimmerwalder Linken vereinten konsequenten Kämpfern gegen den imperialistischen Krieg anschloss.

Den Beginn der Novemberrevolution erlebte Levi in Berlin. Bei der Gründung des Spartakus-Bundes am 11. November wurde er, der auch neben Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht der Redaktion der „Roten Fahne“ angehörte, in die Zentrale gewählt. In deren Auftrag hielt er auf dem Gründungsparteitag der KPD das Referat zur Frage der Beteiligung an den Wahlen zur Nationalversammlung. Es war dies, neben der Gewerkschaftskontroverse, die Frage, an der sich die Geister schieden.

Auf der einen Seite standen die auf die Massen orientierten Realisten, auf der anderen die von revolutionärer Ungeduld verzehrten Linksradikalen. Levi bekannte sich grundsätzlich zur Rätemacht, erklärte aber, dass die Mehrheit der Arbeiter noch nicht für sie zu kämpfen bereit sei, dass man sich also in einer Phase befinde, in der es sowohl innerhalb als auch außerhalb des Parlaments Flagge zu zeigen gelte. Dabei schätzte aber auch er, obwohl er auch vor überzogenem Optimismus warnte, die Situation insofern unrealistisch ein, als er von der bereits begonnenen zweiten Revolution, der sozialistischen Revolution sprach.

Zwei Wochen später waren Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet. Als im März 1919 auch deren Nachfolger in der Parteispitze, Leo Jogiches, Opfer des weißen Terrors wurde, übernahm Paul Levi die Führung der jungen, zahlenmäßig noch schwachen, verfemten KPD.

In jenen Monaten ging es um Sein oder Nichtsein, der von Luxemburg und Liebknecht gegründeten Kämpferschar. Ihr Überleben zu sichern, war eine Aufgabe, die wahrhaft übermenschliche Kräfte erforderte.

Die Konterrevolution scheute vor keiner Gemeinheit, vor keiner Bluttat zurück, um den Kommunismus in Deutschland zu zerschmettern.

Als Antwort darauf bemächtigte sich vieler Genossen, die Partei bestand vor allem aus jungen Menschen, Trotz und Wut. In maßloser Überschätzung der eigenen Möglichkeiten setzten sie auf die Parole „alles oder nichts“ und riefen zum Strafgericht gegen all jene, die nicht mit ihnen zum Sturm auf die bürgerliche Ordnung antreten wollten.

Levi kämpfte nach rechts, gegen die militaristische Reaktion, nach links gegen Sektierertum und anarchistischen Voluntarismus.

Dabei blieb ihm das Dilemma nicht erspart, dass schon viele Streiter für demokratische Entwicklungen vor unlösbare Aufgaben gestellt hatte. Indem er, alles unter den Bedingungen der Illegalität, die Autorität der Parteiführung gegen die intoleranten Linksradikalen einsetzte - ganze Bezirksorganisationen wurden ausgeschlossen -, trug er ungewollt zur Festigung des Zentralismus, zum Aufbau undemokratischer Strukturen bei.

Während des Kapp-Putsches rief Levi, der wieder einmal eingekerkert war, aus dem Gefängnis heraus zur breitestmöglichen Einheitsfront auf. Nach den ersten Reichstagswahlen, Juni 1920, zogen er und Clara Zetkin als erste Kommunisten in das deutsche Parlament ein.

Die Vereinigung der USPD mit der KPD im Dezember desselben Jahres schien zunächst eine Stärkung der demokratischen Elemente in der Partei zu bedeuten. Doch schon zwei Monate später gewannen die Anhänger einer abenteuerlichen Offensivtheorie die Überhand. Als Levi sich gegen die einheitsfeindliche Haltung der Kommunistischen Internationale bei der Gründung der italienischen kommunistischen Partei wandte, wurde er im Zentralausschuß der Partei überstimmt.

Da es bei dieser Kontroverse um Grundsatzfragen, nämlich um die unversöhnlich antisozialdemokratische Linie der kommunistischen Bewegung ging, sah er keinen anderen Ausweg als den Parteivorsitz niederzulegen.

Mehrere führende Funktionäre, darunter Clara Zetkin, erklärten sich mit ihm solidarisch und schieden ebenfalls aus der Parteispitze aus.

Die neue von Heißspornen geleitete Zentrale erlitt schon einen Monat später ein Fiasko. Als die Offensivtheoretiker 1921 während des mitteldeutschen Generalstreiks gegen Polizeiwillkür trotz fehlender Voraussetzungen für eine Volkserhebung versuchten, einen Aufstand zu entfesseln, verloren Hunderte von Arbeitern ihr Leben und der Graben zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten wurde noch weiter aufgerissen.

Deutlicher als je zuvor drohte die Gefahr künftiger politischer Engstirnigkeit. Levi konnte nicht schweigen. Als er aber die Stimme erhob, er schrieb eine Broschüre „Wider den Putschismus“, wurde er aus der Partei ausgeschlossen. Lenin musste einräumen, dass Levi dem Wesen der Sache nach in vielem recht hatte, hielt aber den Parteiausschluß, weil der Kritiker die Parteidisziplin verletzt habe, für gerechtfertigt. Ein Jahr später ging Lenin dann soweit, den ehemaligen KPD-Vorsitzenden, der sich ein selbständiges Urteil bewahrte, als einen „höchst geschickten Beauftragten der Bourgeoisie“ zu bezeichnen.

Gemeinsam mit einigen ausgeschlossenen Genossen bildete Levi im September 1921 eine „Kommunistische Arbeitsgemeinschaft“, die sich nicht als Partei, sondern als Vorkämpferin für eine antidogmatische Erneuerung der Bewegung verstand. Die Tragik dieser Gruppe, die das Verhältnis Führer-Masse auf demokratische Grundlage stellen wollte, bestand darin, dass sie von den Massen abgelehnt wurde. Ihre Mitglieder resignierten.

Levi, der sich außerhalb der organisierten Arbeiterbewegung wie im Vakuum fühlte, trat der SPD bei. Dort stand er an der Spitze des linken Flügels, der sich gegen die Preisgabe sozialer Errungenschaften und demokratischer Traditionen wehrte und für die Aktionsgemeinschaft mit den Kommunisten warb.

Die Entwicklung rollte jedoch über ihn hinweg. Eine Woche nach dem Moabiter Prozess ließ der antikommunistisch verblendete sozialdemokratische Polizeipräsident von Berlin die Maidemonstration der Arbeiter zusammenschießen. Kurz danach beschloss der Magdeburger SPD-Parteitag, auf dem Levi leidenschaftlich vor der Anpassung an den Militarismus warnte, die verhängnisvollen Richtlinien zur Wehrpolitik.

Die Kommunisten ihrerseits verketzerten die Sozialdemokratie als „Zwillingsbruder des Faschismus“. Paul Levi prangerten sie als Wortführer des Luxemburgismus an, den sie für eine besonders gefährliche Abart des „Sozialfaschismus“ erklärten. Und all das, als sich Anfang 1930 immer hörbarer schon die Marschtritte der Nazis durch Deutschland hallten. Paul Levi sah sich, erst 47jährig, vor dem Abgrund.

Nur wenige fanden sich zusammen, um diesen selbstlosen Kämpfer zu Grabe zu tragen. Zu ihnen gehörte auch die langjährige Freundin und Mitarbeiterin Rosa Luxemburgs, Mathilde Jakob, die bis zuletzt Sekretariatsarbeiten für ihn verrichtet hatte.

Levis Name verblasste rasch. Die sozialdemokratische Geschichtsschreibung behandelte ihn am Rande als unbequemen Querkopf, die kommunistische tat ihn, wenn sie ihn überhaupt erwähnte, als „Renegaten“ und „Parteischädling“ ab.

So wurde noch nach seinem Tode ein Mann verstoßen, dessen humanistische Grundhaltung, dessen theoretischer Weitblick, dessen Bekenntnismut die Arbeiterparteien bei der Überwindung von Verkrustungs- und Erstarrungserscheinungen dringend gebraucht hätten. Im Umgang mit Paul Levi hat sich die revolutionäre Bewegung an sich selbst versündigt.

In: Radio DDR II, Berlin, vom 15.04.1989. 13.05-13.20 Uhr. DRA. Record: 33647.
Printerstveröffentlichung unter dem Titel: Lenins großer Fehler. Das Schicksal von Paul Levi. Bericht über Leben und Wirken. in: junge Welt vom 9. Februar 2005, Nr. 33 (75. Todestag von Paul Levi)